Als Kleinkind, lange vor meiner Einschulung, nahm ich wahr, dass es andere Sprachen gibt. Meine Eltern besaßen nie ein Auto, sodass wir immer
den Trolleybus benutzten, um in die Stadt zu fahren.
Die roten Trolleybusse waren alt, hatten an der Längsseite Bänke aus abgewetztem Leder und rochen nach Schweiß und Rauch. Meist waren sie gerappelt voll mit Arbeitern.
Zu Stoßzeiten versah man sie mit holprigen Anhängern, die im Winter wegen der Heizung nach Petroleum rochen.
Durch die Lautsprecher kündete der Chauffeur jeweils die angefahrene Haltestelle an. Je nach Muttersprache des Chauffeurs ertönte zuerst der deutsche
oder französische Name. Und die Zweitsprache des Chauffeurs tönte in meinen Ohren «komisch», aber interessant:
Pont du Moulin – Mühlebrücke; Place Centrale – Zentralplatz; Place de la Fontaine – Brunnenplatz; La Gare – Bahnhof.
Dazu kamen die Sprachen der Fremdarbeiter, wie man die Saisonniers damals nannte,
vor allem Italienisch und Spanisch. Wie kann man Sprachen nicht interessant finden?
Es kam vor, dass ich meine Großmutter, eine typische Stadtbielerin, in die Bäckerei begleitete.
Sie sagte dann Sätze wie: «Es Miuchbuurebrot, si’l vous plaît.» oder «Auso, uf widerluege et bon dimanche!».
Überhaupt hatte sie viel von den «Welschen», denn sie war immer geschminkt und trug farbenfrohe Kleider.
In der ersten Klasse lud mich einmal ein Klassenkamerad zum Spielen nach Hause ein.
Er lebte mit seiner Familie im Arbeiterquartier «Vorhölzli», in den «Tschinggen-Baracken» am Dorfrand von Biel-Mett. Ihre Baracke war spartanisch eingerichtet.
In der Ecke stand ein elektrisches Réchaud mit zwei Herdplatten, es gab einen Tisch, ein paar Stühle und Kajütenbetten.
Die Wäsche hing zum Trocknen an Schnüren zwischen den Baracken und draußen befand sich eine Gemeinschaftstoilette mit Wasseranschluss.
Es roch unangenehm und ich hörte verschiedene Sprachen, vor allem Italienisch.
Gebrochener Daumen
1966 war ich in der zweiten Klasse und wir hatten oft Streit mit den Welschen. Die Welschen waren die französischsprachigen Schüler
aus dem ersten Stock im Geyisried-Schulhaus. Meine damalige Lehrerin, die Anthroposophin Elisabeth Bühler, war zugleich Taufpatin meines Bruders,
kinderlose Ehefrau meines Taufpaten und Oberlehrers und gut mit meinen Eltern befreundet!
Dieser Umstand und der Zeitgeist der Sechzigerjahre verhinderten wohl, dass die Misshandlungen der Kinder, welche ihr anvertraut waren,
je irgendwelche Folgen gehabt hätten.
Die besagte Dame hatte uns wohl während der 10-Uhr-Pause bei den Streitereien mit den Welschen beobachtet, denn nach der Pause
wurden ein paar Knaben unserer Klasse namentlich nach vorne gerufen. Sie redete nicht viel, atmete aber erregt ein und aus.
«Ihr wisst natürlich, was jetzt auf euch zukommt: ein Tötzi!»,
sagte sie genüsslich und zog ihre schwarzen Lederhandschuhe an.
Dann holte sie aus der obersten Schublade ihres Pultes ein schwarzes Lineal aus Aluminium hervor und stellte sich vor uns hin.
Einer nach dem andern mussten wir eine Hand ausstrecken und ihre Schläge auf die geöffnete Innenseite entgegennehmen.
Ich war als letzter dran. Als sie mit dem Lineal herunterzog, drehte ich instinktiv meine Hand so ungeschickt, dass der Schlag
meinen Daumen auf der Außenseite traf. Der Schmerz war groß und die Tatsache, dass ich dabei einen Knochenbruch erlitt,
erfuhr ich erst als Erwachsener, als mir einmal der Arm geröntgt wurde.
Frau Bühler schmiss theatralisch Lineal und Handschuhe in eine Ecke und meinte: «So ein Dreck! An eure Plätze!»
Ich traute mich nicht, zu Hause etwas von diesem Vorfall zu erzählen und versteckte meinen geschwollenen Daumen so geschickt,
dass meine Eltern nichts von der Verletzung mitbekamen. Auch zu Hause kam es zu körperlichen Züchtigungen, allerdings
nie sexuell aufgeladen, wie bei Frau Bühler …
Als Kind war es mir damals nicht möglich, ihr Verhalten zu verstehen. Ich dachte nur: diese Frau ist krank im Kopf. Heute weiss ich, dass meine
Lehrerin eine pädokriminelle Sadistin war.
Hasenfratz im Kiental
Als fünfköpfige Familie war unser finanzieller Spielraum begrenzt. Trotzdem fuhren wir ab und zu eine Woche in die Ferien.
Oft geschah dies mittels Wohnungstausch, welchen meine Mutter brieflich über eine spezielle Agentur organisierte.
1966 verbrachten wir so eine Woche in der Lehrerwohnung des Schulhauses Kiental im Berner Oberland.
Ohne Auto bestanden unsere Ausflüge meist aus längeren Wanderungen, die ich nie besonders mochte. Ausnahmsweise benutzen wir ein Postauto
oder sogar eine Bergbahn. Eines Tages stand ein Ausflug auf die Griesalp auf dem Programm,
wo wir den Hexenkessel des Gamchibaches besichtigen wollten.
Auf dem Dorfplatz standen drei Autocars und ein Chauffeur las die Familiennamen von einer Liste, damit die Passagiere ihre reservierten Plätze einnehmen konnten.
Als er «Familie Hasenfratz» aufrief, lachten wir drei Brüder lauthals los, denn so einen lustigen Namen hatten wir noch nie gehört.
Doch das Lachen verging uns schnell, als Vater meinem Bruder Christoph eine Ohrfeige verpasste. Dieser begann zu weinen und wir verstanden
überhaupt nichts mehr. Vater zischte nur: «Seid sofort still!» Während der Wanderung erklärte er uns dann, dass Hasenfratz ein
jüdischer Familienname sei und dass ihn die Situation bei den Autocars an die Selektionen der Nazis habe denken lassen.
Die Ohrfeige sei eine Überreaktion gewesen, aber wir sollten daraus lernen, uns nie über andere Menschen lustig zu machen.
1966 erhielt ich meine erste Armbanduhr als Geburtstagsgeschenk von meiner Großmutter mütterlicherseits.
Meine Mido hatte ein Federwerk
und hellgrüne Leuchtziffern. Ich war stolz und glücklich, denn für ein Bieler-Kind
war eine Schweizeruhr ein wichtiges Accessoire. Etwa zu dieser Zeit statteten wir der Taufpatin meiner Mutter, welche schwer erkrankt war, einen Besuch ab.
Sie hatte bis zu ihrer Erkrankung als «Radiumeuse» in Heimarbeit Zifferblätter für die Uhrenindustrie mit einer Radium-Phosphor-Farbe bepinselt.
Heimarbeit bedeutete Arbeit im Akkord, man wurde nicht nach Arbeitszeit, sondern nach Stückzahl bezahlt.
Die an Kehlkopfkrebs erkrankte Frau zeigte uns ihr «Établi» (kleiner Arbeitstisch im Schlafzimmer) mit den typischen Utensilien
einer «Radiumeuse» (Radium-Arbeiterin).
Obwohl der Einsatz von Radium-226 schon seit 1963 verboten war, schafften es die Behörden nicht, die vielen Heimarbeiterinnen zu kontrollieren.
Nur drei Jahre später erfuhr ich von einem Klassenkameraden, dessen Vater einen kleinen Zulieferbetrieb für Zifferblätter betrieb,
dass die kantonalen Strahlenschützer bei ihnen eine Inspektion durchgeführt hätten. Die italienischen und spanischen Arbeiterinnen hätten
den Junior gebeten, doch an ihrer Stelle in die Probe-Becher zu pinkeln. Sie befürchteten den Verlust ihres Arbeitsplatzes wegen einer Überschreitung
der maximal zulässigen Strahlenbelastung.
In den Sechziger-Jahren herrschte eine naive Zukunftseuphorie, man ging sorglos mit der Umwelt um. Rauchende Schornsteine sah man als Zeichen der
Vollbeschäftigung und nicht als Gefahr. Regelmäßig brannte der Stadtmist im Mettmoos und stank bestialisch.
Nebst Tierkadavern und Hausmüll wurden dort auch Industrieabfälle entsorgt (ich war Augenzeuge). Heute weiß man, dass es noch weitere
Industriedeponien gab.
2018 erschien ein Bericht des schweizerischen
BAG zu den Radiumleuchtfarben und eine Online-Karte mit bekannten Arbeitsstätten und
keiner der mir bekannten Orte war darauf vermerkt!
Radio
In meiner Familie durfte nur mein strenger Vater das Radio bedienen. Es handelte sich um einen Philips-Röhrenempfänger
mit Telefonrundspruch. Immer nach dem Mittagessen, kurz vor halb Eins,
schaltete Vater das Gerät ein und richtete seine Armbanduhr nach dem Zeitzeichen,
das vor den Hauptnachrichten aus Neuchâtel gesendet wurde. Bis zur fünften Klasse war dies mein einziges Fenster zur Welt und dabei dürstete ich nach mehr.
Vom ersparten Taschengeld wollte ich mir ein kleines Transistorradio kaufen,
welches ich in einem Coop-Katalog entdeckt hatte.
Ich fuhr also mit dem Fahrrad in die Stadt, verlangte im Kaufhaus Burg nach dem kleinen japanischen Wunderding mit Namen «Mandarin»
und legte die abgezählten 16 Franken 80 auf den Tresen. Die Enttäuschung war groß, als ich erfuhr, dass da noch 3 Franken für die
Konzessionsmarke zu bezahlen wären. Ich fuhr also unverrichteter Dinge nach Hause und bat meine Mutter verzweifelt um den fehlenden Betrag.
Sie hatte Mitleid und meinte nur: «Vati darf davon nichts erfahren!»
Also radelte ich nochmals in die Stadt und konnte endlich meinen Transistor kaufen. Glücklich und vom Regen durchnässt kam ich zu Hause an
und probierte gleich an dem Gerät herum. Tagsüber konnte man nur zwei Mittelwellen-Sender empfangen: Beromünster und Sottens.
Ich versteckte meinen Schatz zuunterst im Bettzeugkasten und versuchte es erneut nach dem Zubettgehen.
Als alles still war und meine beiden Brüder eingeschlafen waren, zog ich das Gerät hervor und schaltete es mit eingestecktem Ohrhörer ein.
Da war es, das Fenster zur Welt: Radio Luxembourg
und viele weitere Sender und Sprachen – wunderbar.
Nur ein halbes Jahr später zwang mich ein Beinbruch, den ich mir beim Skifahren hinter dem Schulhaus mit altmodischen Kandahar-Bindungen zugezogen hatte,
3 Wochen ins Bett. Ohne das Transistorradio wäre diese Zeit unerträglich gewesen. Mein größtes Problem war der Energiehunger des Radios,
doch meine Mutter hatte Erbarmen und besorgte mir regelmäßig Ersatz für die eckigen 9V-Batterien.
So waren auch die Schularbeiten, welche ich im Bett zu schreiben hatte, auszuhalten.
Wieder gesund, baute ich einen Lautsprecheranschluss in das kleine Ding. So konnte ich in Abwesenheit meines Vaters den Lautsprecher
seines Lenco-Kofferplattenspielers anschließen.
Der plärrende kleine Japaner hatte nun einen ansehnlichen Klang.
Zu dieser Zeit kaufte sich auch meine Großmutter ein neues Radiogerät und ich durfte das Biennophone-Röhrenradio meines
verstorbenen Großvaters mit nach Hause nehmen. In Großmutters Wohnung entdeckte ich eine Antenne mit Bananenstecker-Anschluss.
Sie erzählte mir, dass ihr Mann während des Krieges täglich BBC gehört und an
einer Europakarte an der Wand mit Stecknadeln den Frontverlauf aktualisiert habe. Ich nahm mir vor, ebenfalls auf Kurzwellenjagd zu gehen.
Leider stieg Großvaters Röhrenradio nach einem Jahr endgültig aus, lief aber lange genug, um mir einen Eindruck des Geschehens auf Kurzwelle zu liefern.
Dank des Radios konnte ich inzwischen in der Schule mitsprechen, denn ich hatte eine Ahnung vom Weltgeschehen.
Verbote
1969 bestand ich die Prüfung für die Sekundarschule und erwartete gespannt den Schulhauswechsel.
Meine Eltern besuchten vorgängig die Vorstellung der neu erbauten Sekundarschule «Sahliguet».
Mein Vater, Primarlehrer, erzählte mir von diesem Elternabend: «Die Kollegen aus der Sekundarschule erschienen mir recht altmodisch.».
Als ich nachfragte, weshalb «altmodisch», meinte meine Mutter, alle Mädchen müssten Röcke tragen,
ihnen seien Jeans und dergleichen nicht gestattet.
Ich war einigermaßen erstaunt, da ich in der Primarschule bereits die Mädchen der Oberstufe in Miniröcken bewundern durfte.
Ich fand dieses Verbot völlig ungerecht und schwor mir, falls ich als Erwachsener je Einfluss auf Kleiderregeln haben sollte,
diese umgehend abzuschaffen. Wer konnte ahnen, dass diese antiquierte Kleiderregel für Mädchen noch im selben Schuljahr abgeschafft würde.
Schon im folgenden Frühjahr schlossen wir Wetten ab, wer die Höschen-Farben der Mädchen unserer Klasse als erster korrekt erkannt hatte –
dem Minirock sei Dank. Die Mode wechselte zu schnell für unsere konservativen Lehrkräfte.
Während der ersten 30 Schuljahre als Lehrer war Ruhe, die Kleiderregeln betreffend. Doch dann kam der Jugoslawienkrieg und schon ging die
Kleider-Diskussion von neuem los. Unter anderem wurden gestreifte Trainerhosen (damals Standard bei Menschen aus Ex-Jugoslawien) zur unerwünschten Kleidung
erklärt! Ein unerklärlicher Konservatismus brach sich Bahn, und dies nur wenige Jahre nachdem die Mädchen der Oberstufe bei Badeausflügen
jeweils oben ohne sonnenbadeten! Dann ging es weiter mit Löchern in der Kleidung, bauchfreien Tops, sichtbaren BH-Trägern …
Mir taten die Jugendlichen leid. Wie sollten sie sich noch von der Generation ihrer Eltern und Lehrer abheben?
Kein Wunder, begannen sie ihre Mobiltelefone in diesem Sinne zu nutzen. Uns Lehrern ist zum Glück der Zugriff auf ihre Geräte verboten!
Meine Lehre aus diesen Erfahrungen: Regeln sind dem Zeitgeist, dem Ort und vielen weiteren Faktoren unterworfen.
In den Sechzigern lautete ein Slogan: Verbietet das Verbieten!
Gogo
Da ich durch meine zwei Kindergartenjahre ein Jahr älter war als die meisten meiner Mitschüler, hatte ich bereits 1971, in der 7. Klasse, ein Mofa.
Dieses hatten mir meine Eltern geschenkt, um mir den langen Schulweg ins Gymnasium zu erleichtern. Das letzte Teilstück dieses Schulwegs war die überaus
steile Alpenstraße zum «Affenkasten», wie das Gebäude wegen seiner Tierreliefs genannt wurde.
Es war üblich, dass die Mofafahrer den Radfahrern ihren Oberarm anboten, sodass sich diese ziehen lassen konnten. Natürlich kannten wir uns nicht alle mit
Namen, so kam es vor, dass mich jemand mit dem Modellnamen meines Mofas (BatavusGogo) ansprach, um gezogen zu werden.
So wurde Gogo zu meinem Spitznamen.
Blues gegen Trauma
1972 im Gymnasium hieß das Schulfach «Musik» nicht mehr «Singen», wie noch in der Sekundarschule.
Ich empfand dies als falsch, denn singen ist doch wie gehen – eine Grundfertigkeit! Der Klassenlehrer belehrte uns, dass die Fertigkeit
auf der Gymnasialstufe breiter gefasst würde und dass unser Musiklehrer ohnehin nicht singen könne!
Dem Protest der Klasse zuvorkommend erzählte er uns, dass Herr Fries als Auschwitzüberlebender besonders empfindlich auf Gesang reagiere.
Unser Verständnis hielt sich da noch in Grenzen.
Bisweilen betrat der besagte Herr Fries das Musikzimmer und bemerkte ernst: «Heute geht es leider nicht… ich werde Ihnen etwas vorspielen».
Dann setzte er sich an den schwarzen Flügel und übersetzte sein Trauma in Boogie-Woogie und Blues-Improvisationen.
Diese virtuosen Haus-Konzerte waren so ausdrucksstark, dass sie keiner Worte bedurften.
Im Sommer konnte man einen Blick auf seine tätowierte Häftlingsnummer am linken Unterarm erhaschen.
Jetzt hatte ich volles Verständnis für seine Einschränkungen.
Ich spielte damals Geige im Schülerorchester des Gymnasiums. Herr Fries war sehr introvertiert, aber einmal stellte er uns eine Eigenkomposition vor:
Fries’ Swing (mein erster Kontakt mit Jazz).
Wir spielten den Swing zwar nur als Étude, aber ich hatte Feuer gefangen.
Durch das Radio kam ich auf die Schallplatte Switched-On Bach von Walter Carlos.
Ich fand die Moog-Synthesizer Version von Bachs Kompositionen spannend und nahm die Platte mit in den Musik-Unterricht.
Herr Fries war (im Gegensatz zu meinem Vater) sofort begeistert davon, kopierte diese auf Band und setzte sie im Unterricht ein.
An einem guten Tag erzählte er einmal seinen Lieblingswitz: Jemand rief: «Heiße Würstchen!» Ich antwortete: «Angenehm, heiße Fries.»
Toleranz
Ich war nie besonders religiös und die unterschiedlichen Glaubensbekenntnisse meiner Mitmenschen nahm ich kaum wahr.
Im Gymnasium änderte sich dies, denn meine jüdischen Mitschüler durften
am Schabbat nicht schreiben.
Sie waren also gezwungen, das jeweils Verpasste nachzuarbeiten. In Biel war der Umgang mit ihnen sehr tolerant.
Auf einer Klassen-Party bei Angel, einem jüdischen Mitschüler, offerierte uns seine orthodoxe Mutter mit großer Selbstverständlichkeit Brote mit Schinken – Toleranz auf allen Seiten.
Am Tag des Münchner Attentats (5. September 1972) hörte ein jüdisches Mädchen
während des ganzen Unterrichts die Radio-Reportagen. Liselotte hatte das Ohrhörerkabel unter ihrem Pullover und ihren langen Haaren versteckt.
Ich bin mir sicher, dass unser Klassenlehrer dies bemerkt hatte und verständnisvoll darüber hinwegsah.
Viele Jahre später lernte ich im Militär ein menschenverachtendes Vokabular kennen.
Unser Küchenchef verkündete, es hätte für Hungrige noch «gestampfte Juden».
Ich hörte diesen antisemitischen Begriff für Dosen-Fleischkäse zu ersten Mal und war entsetzt.
Ein mutiger Kamerad beschwerte sich beim Kompaniekommandanten darüber, was zur Folge hatte, dass er von diesem selbst schlecht behandelt wurde.
Nun kam ich an die Grenzen meiner Toleranz.
Ohrfeigen und Nierenschläge
Heute kann ich zwar die Ohnmacht und Verzweiflung der Lehrer verstehen, welche uns körperlich disziplinierten, denn in unserer Schule gab es viele Probleme …
allerdings fehlt mir das Verständnis für die unsägliche Gewalt, welche von ihnen ausgeübt wurde.
In der Sekundarschule hatte unser Musiklehrer Heinz Krummenacher 1973 sein eigenes System, Ohrfeigen auszuteilen.
Er kniff die Knaben (ausschließlich) mit seiner rechten Hand an der linken Backe, um dann unvermittelt mit großer Kraft
dieselbe geöffnete Hand auf diese niedersausen zu lassen. Die Backen liefen jeweils rot an und man konnte den Abdruck
seiner Hand deutlich sehen. «Disziplinieren» konnte er die Schüler dadurch nicht, das Resultat war immer Hass und Verachtung.
Das wohl grausamste Erlebnis im Zusammenhang mit Körperstrafen mussten wir im Turnen erleben. Während eines Handballspiels
erlaubte sich ein Klassenkamerad, die in seinen Augen ungerechte Schiedsrichterentscheidung mit einem leisen «Arschloch» zu kommentieren.
Sein Pech war, dass Herr U. Hoffmann dies hörte. Der Lehrer schäumte vor Wut: «Was fällt dir eigentlich ein?» und verprügelte
den Knaben mit beiden Fäusten vor der Klasse. Mehrfach setzte er sein Knie gezielt gegen die Nieren des malträtierten Schülers ein, bis dieser
wimmernd auf allen Vieren aus der Turnhalle kroch.
Mehr als der grausame Vorfall selbst, schockierte mich schon damals die Tatsache, dass in der Folge absolut nichts geschah.
Kein klärendes Gespräch, keine Entschuldigung, geschweige denn eine Bestrafung dieses Lehrers!
Photographie
Meine ersten «Photographien» machte ich mit einer selbst gebauten Lochkamera.
Die Anregung dazu hatte ich einem Bastelbuch aus der Schulbibliothek entnommen (damals fotografierte man noch mit ph).
Für das Entwickler– und Fixierbad reichte mein Taschengeld gerade noch, doch dann musste ich improvisieren.
Zum Zwischenwässern benutzte ich das Katzenklo (wir hatten inzwischen einen Hund) und das Wässern fand in der Waschküche statt.
Schnell wuchs der Wunsch nach einer richtigen Kamera, aber ich musste bis Weihnachten 1973 warten.
Meine ersten Bilder mit dieser Kleinbildkamera waren noch in Farbe. Die Negativfilme waren zwar erschwinglich,
doch die Abzüge im Fotolabor überstiegen schnell meine Möglichkeiten.
So wechselte ich zurück zur Schwarzweißfotografie und war gezwungen, meine Negative selbst zu vergrößern.
Da lauerte schon die nächste Hürde: wie komme ich an ein Vergrößerungsgerät?
Wiederum griff ich auf Rudolf Wollmanns «Werkbuch für Jungen» zurück und baute mir selbst so ein Gerät aus Sperrholz und einem antiquarischen Objektiv.
1974 trafen wir vor dem Schulhaus auf ein Kamera-Team des Büro Cortesi,
welches im Auftrag des Schweizer-Fernsehens Interviews über die Freizeitgestaltung der Jugendlichen drehte.
Bei meinen Kameraden standen nebst den Mädchen nur die Mofas und Spielsalons im Vordergrund. Als Leseratte erwähnte ich meine Bibliotheksbesuche
und meine Hobbys. Ich sah mir die Ausstrahlung des Beitrags bei meiner Großmutter an (bei uns zu Hause war das Fernsehen tabu).
Meine Antworten kamen ganz am Ende und ich wurde als Ausnahme der sonst verdorbenen Jugend dargestellt.
Mir war das Ganze peinlich, denn ich wollte auf keinen Fall als Musterknabe herausstechen, schließlich hatte auch ich ein frisiertes Mofa
und hörte am liebsten Deep Purple und Uriah Heep!
Bei der Berufswahl schwankte ich lange zwischen Photograph und Lehrer, ich entschied mich für das Lehrerseminar.
Dort verhalfen mir meine Kenntnisse in der Fotografie zu einer guten Patentarbeit über den «Ständerbau im Seeland».
Jugendliche Subkultur
Als Lehrersohn war ich verwöhnt, was kulturelle Bildung angeht. Schon mit fünf Jahren erhielt ich von Vater eine Geige,
er unterrichtete mich und hielt mich zum Üben an. Obwohl ich bereits recht gut spielte, begann ich in der Pubertät das Instrument abzulehnen.
Mein Vater setzte mir ein Ultimatum, um herauszufinden, welches Instrument ich denn spielen wollte. Dass mich auch andere Dinge interessieren
könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Also begann ich, eher unter Zwang, Querflöte zu erlernen.
Es war zu dieser Zeit, als ich bei einem älteren Nachbarsjungen «Oye cómo va» von
Carlos Santana zu hören bekam.
Diese Musik war für mich eine Erleuchtung. Mit aufgesetzten Kopfhörern begann ich zu diesem und anderen Songs zu improvisieren.
Später, im Lehrerseminar, erhielt ich die Möglichkeit, als Quartier-Bademeister etwas Geld zu verdienen.
Der erste Lohn floss 1977 in einen portablen, knallgelben Fernseher aus Ungarn, der zweite in einen japanischen Telecaster-Nachbau.
Ein Verstärker war für mich unerschwinglich, also lötete ich mir selbst einen zusammen. Ein Putzeimer aus Kunststoff musste als Gehäuse herhalten.
Nach meinen ersten Spielversuchen mit der elektrischen Gitarre, trat mein Vater ins Zimmer und meinte:
«Naja, die jugendliche Subkultur, früher oder später kommst du auf den rechten Pfad zurück …».
Er konnte nicht ahnen, dass mir dieses Instrument ein Lehrerleben lang zum treuen Begleiter werden würde.
Später gründeten wir eine Band und traten mit selbst komponierten Songs auf. Immer auf der Suche nach dem perfekten Sound, baute ich mir
ein Overdrive-Effektgerät, einen Verzerrer. Ich konnte sogar einige Exemplare davon bekannten Gitarristen verkaufen.
Ich erfuhr, dass Tommy Kiefer, Gitarrist von «Krokus» meinen Verzerrer für die Aufnahmen der LP «Metal Rendez-Vous» eingesetzt hatte.
Jahre später erhielt ich die Gelegenheit, Carlos Santana live zu erleben, 1991 sogar in México.
Die Gitarre hat mir viele Türen geöffnet, sie wurde jeweils zum «Eisbrecher», sobald ich eine neue Klasse erhielt.
Ostkontakte
Während meiner Zeit am Lehrerseminar Biel mussten wir öfters schriftliche Arbeiten einreichen. In den 70ern bedeutete dies
viel Recherche in den Bibliotheken und nach Möglichkeit auch die Suche nach weiteren Quellen. 1977 hatte sich ein Klassenkamerad das
«Thema Kornkammer der UdSSR» (Ukraine) ausgesucht.
Inmitten des Kalten Krieges war es nicht gerade einfach,
an geeignete Quellen zu gelangen. Also telefonierte der Seminarist Ruedi Winistörfer mit der sowjetischen Botschaft in Bern und
fragte nach Statistiken und Landkarten. Seine Ansprechpartner waren ausgesprochen wohlwollend und schickten ihm einen ganzen Karton
mit Karten, Fotobüchern, Dokumentationen und Statistiken an seine Wohnadresse. So ausgerüstet konnte er eine besonders
gute Geografie-Arbeit einreichen.
Etwa einen Monat später klopfte jemand während des Methodikunterrichts an unsere Türe. Es war die Sekretärin, sie fragte
nach Ruedi Winistörfer und bat ihn in das Büro des Rektors. Wir maßen dem keine besondere Bedeutung zu und vermuteten,
dass es sich um irgendeine bürokratische Kleinigkeit handeln durfte.
Das änderte sich, als uns Ruedi – zurückgekehrt vom Rektor – vom Gespräch mit diesem berichtete: Ob er es wirklich ernst meine,
mit dem Beruf des Lehrers. Seine Ostkontakte würden deutlich dagegensprechen. Bei einem weiteren Vorfall wäre die Erlangung
des Lehrpatents in Frage gestellt.
Der Vorfall ließ nur eine Deutung zu: da die Telefonleitungen der Sowjetbotschaft wohl abgehört wurden, hatte der Nachrichtendienst
unseren Rektor Heinz Wyss aufgefordert, ein Auge auf Ruedi zu werfen! Jahre später erfuhr ich, dass zu dieser Zeit jener Rektor selbst
Mitarbeiter des militärischen Nachrichtendienstes war …
Nicht rot werten!
Als ich 1978 das Lehrpatent erhielt, herrschte großer Lehrerüberschuss. Von unserer 24-köpfigen Seminarklasse erlangten gerade
einmal vier Jungpädagogen eine Stelle. Ich gehörte nicht dazu und schlug mich während zwei Jahren mit Stellvertretungen durch.
Wir nannten diese Lückenbüßerei scherzhaft «Religion und Weitsprung».
Mein erster Einsatz dauerte gerade einmal drei Schultage. Ich durfte meinen Taufpaten Ernst Bühler während seines Zivilschutzdienstes vertreten.
Für seine Neuntklässler war wohl mein Einsatz eine Art Revolution: Herr Bühler, Oberlehrer, konservativer und autoritärer Anthroposophe
wurde durch einen Gitarre spielenden Jungspund vertreten. Erstaunlicherweise haben die Schüler dieses Machtgefälle nicht ausgenutzt,
vermutlich war die Dauer meines Einsatzes zu kurz dazu.
Am Ende meiner Vertretung fand ich im Briefkasten einen mit Patschuli parfümierten Brief. Auf dem Umschlag stand in roter Farbe
«nicht rot werten!». Der Inhalt war ein erotischer Höhenflug eines pubertierenden Mädchens dieser Klasse.
Es hatte seinen Namen durch Buchstabenverschiebung chiffriert, wohl um zu vermeiden, dass Uneingeweihte Rückschlüsse auf
die Urheberin ziehen konnten (die Buchstabenverschiebung war Teil einer Mathematikaufgabe aus meinem Unterricht gewesen).
Ein paar Tage später begegnete mir Beatrice Flückiger auf der Straße. Sie fragte mich, ob ich Post erhalten hätte.
Dabei zitterte sie und errötete im ganzen Gesicht. «Trixle» war ausgesprochen hübsch und sympathisch und ich wollte ihr
eine Verletzung durch meine Rückweisung ersparen. Ich sagte ihr, dass mich ihr Brief sehr gefreut habe,
dass ich sie gut möge, aber dass sie sich besser jemand in ihrem Alter suchen würde. Ihr kleiner orthographischer Missgriff
bringt mich heute noch zum Schmunzeln.
Remy Martin mit Nazi
1979 unternahm ich zusammen mit meinem Seminarkollegen Hans-Peter Wymann meine erste Flugreise.
Sie führte uns in einer DC10 der schweizerischen Balair
in knapp 5 Stunden nach Tenerife.
Während mein Kollege noch kein Permis besaß, war ich bereits stolzer Inhaber eines Motorradausweises der Kategorie A1 (125cm²).
Somit konnten wir mit einem gemieteten Suzuki RV125 die Insel erkunden. Besonders faszinierte uns der Teide mit seinem Riesenkrater.
Auch kulinarisch betraten wir Neuland. Ich aß zum ersten Mal den damals in der Schweiz noch kaum unbekannte Aguacate (Avocado).
In Hans-Peters Reiseführer wurde ein Fisch-Restaurant im alten Hafen von Puerto de la Cruz besonders empfohlen.
Da wir uns tagsüber meist sehr bescheiden verpflegten, beschlossen wir, uns diesen kleinen Luxus zu gönnen.
Das Essen schmeckte ausgezeichnet und als wir beim Kaffee die bevorstehenden Ausflüge besprachen, standen plötzlich zwei Cognacs
auf unserem Tisch. Der Kellner fragte höflich, ob wir uns an den Tisch eines älteren Herrn setzen würden, er hätte uns den Remy Martin gespendet.
Dieser hatte beim Zuhören bemerkt, dass wir deutsch sprachen.
Er stellte sich vor und begann uns von seinem Leben zu erzählen. Er wäre schon kurz nach dem Krieg nach Tenerife gezogen und er kenne auch
Festland-Spanien. Wie so oft bei Deutschen dieser Generation, klaffte auch bei ihm eine Lücke beim Zweiten Weltkrieg.
Wir fragten also nach und wurden blass bei seiner Antwort. Er sei als Flugingenieur der deutschen Luftwaffe in der
Legion Condor tätig gewesen. In unseren Köpfen tauchte sofort Pablo PicassosGuernica auf
und das herrliche Fischgericht lag uns schwer im Magen…
Nur aus Höflichkeit bedankten wir uns für den Cognac und verließen das Lokal. Wie hätten wir anders reagieren sollen?
Der Abend war wie eine verhexte Zeitreise, denn auf dem Weg zum Hotel sahen wir das Straßenschild «Avenida del Generalísimo Franco»
und auf einer Peseten-Münze war deutlich «Franciso Franco, Caudillo de España, por la gracia de Dios» (… Führer Spaniens von Gottes Gnaden)
zu lesen und dies 39, resp. 4 Jahre nach dem Tod dieser Verbrecher!
1982 unterrichtete ich in Jens,
einer kleinen Gemeinde im Berner Seeland, eine Mischklasse 6. – 9. Schuljahr.
Die zwölf Schüler begeisterten sich für alles, was Technik und Science-Fiction betraf.
Zu dieser Zeit beschäftigte ich mich privat viel mit Elektronik und bekam vom Electronic-Shop in Biel das Angebot,
einen Personal Computer während eines Monats kostenfrei auf seine Tauglichkeit für das Sortiment zu prüfen.
Der Geschäftsinhaber hatte genau den richtigen Kunden dafür ausgesucht.
Ich schloss den Sinclair ZX81 an Fernseher und Kassettenrecorder an,
und machte mich gleich an die Lektüre des englischen Handbuchs «ZX81 Basic Programming».
Mein Bett blieb diese Nacht unbenutzt …
Nach einigen Wochen hatte ich meine ersten Programme so weit, dass ich sie den Schülern vorführen konnte.
Es handelte sich um ein Mastermind und ein Zahlenraten. Also packte ich Computer und Kabel zusammen und machte mich auf den Weg nach Jens.
Die Schüler waren fasziniert. Jeder wollte einmal dieses Wundergerät bedienen, welches die meisten Menschen nur aus dem Fernsehen kannten.
Ich hatte nicht mit der Reaktion des Schulleiters gerechnet: «Schön, dass du ein Hobby hast,
aber Computer in der Schule – das geht gar nicht!». Ich nehme an, dass in seiner Vorstellung einzig
Orwells 1984 eine Rolle spielte. Dass sich da eine Revolution anbahnte, konnten wohl nur jene erahnen, die sich selbst mit Computern beschäftigten.
Doch offensichtlich war der Schulleiter in dieser Hinsicht sehr lernfähig, denn bereits ein Jahr später fuhren wir zusammen an die
Worlddidac 83 nach Basel, wo viele Computerfirmen konkurrierend versuchten, den Schulen ihre Ware zu verkaufen.
Die 80er waren die Pionierzeit in der Schulinformatik. Gestaunt habe ich dann, als ich noch zwanzig Jahre später (Windows XP)
Gegenwind in der Lehrerkonferenz bekam, weil ich dank sinkender Computerpreise, statt der budgetierten 13 für den gleichen Preis 14 Computer
für unsere Schule anschaffen wollte. Zum Glück ist diese sture Lehrkraft dann bei der Abstimmung unterlegen.
Obwohl seit einiger Zeit alle Lernenden mit ihrem persönlichen Notebook zum Unterricht kommen, ist die Bildung nicht besser geworden.
Gelitten hat hingegen bei allen die Beherrschung und Qualität der Handschrift.
Authentisches Kind
Ebenfalls in Jens kam es 1982
zu einem großen Gelächter, als uns die Kollegin der Unterstufe von einem Elterngespräch berichtete, dass sie gerade mit einer Mutter führen durfte.
Diese Mutter des Zweitklässlers war sehr besorgt und erzählte der Lehrerin, dass ihr Sohn ein «authentisches Kind» sei.
Sie erkundigte sich, ob die Schule auf solche Kinder auch genügend Rücksicht nehmen würde.
Die Lehrerin meinte, sie hätte es gerade noch geschafft, ein «Zum Glück ist er authentisch» zu unterdrücken.
Natürlich erhielt die besorgte, im Umgang mit Fremdwörtern ungeübte Mutter eine professionelle Antwort:
«Wir können ihren Sohn gerne bei der Erziehungsberatung in Bern abklären lassen.»
Damals erschienen vermehrt auch in Frauen-Zeitschriften Artikel über Autismus.
Die Angst, dass es das eigene Kind nicht in die Sekundarschule schafft, trieb seltsame Blüten.
Gelebte Integration
Lange, bevor Integration zum Politikum wurde, lernte ich 1984
in Walperswil den Schüler Frank kennen.
Frank besuchte als Spastiker die Oberstufe in diesem 700-Seelen-Dorf. Ich hatte als Junglehrer keine Erfahrung mit behinderten Schülern
und tastete mich behutsam an dieses Thema heran. Von der Invalidenversicherung hatte Frank eine Schreibmaschine mit einem speziellen
Führungsraster für seine Finger erhalten. Zudem besaß er ein spezielles Dreirad für Schulweg und Freizeit. Ich unterrichtete
Mathematik im Teilpensum an seiner Klasse und ich wollte die Winkelhalbierende einführen. Schließlich halfen mir seine Mitschüler:
«Verwenden Sie doch einen Kartonstreifen mit Löchern als Zirkel!». Exemplarischer kann man Integration wohl nicht erleben.
Doch, kann man! Auf der dreitägigen Schulreise in Graubünden stand uns eine zweistündige Wanderung über einen steilen Pfad auf
eine Alp bevor. Ich besprach mich mit Franks Klassenlehrer und wir entschieden, dass einer von uns Frank auf der Postautofahrt begleiten würde,
während die Klasse den Weg unter die Füße nahm. Wir eröffneten der Klasse unseren Entscheid, doch statt der erwarteten Zustimmung
bekamen wir ein «Kommt nicht infrage!» zu hören. «Frank kommt mit uns!»
Die Knaben wechselten sich ab und schleppten Frank abwechseln im Samaritersitz auf die Alp. Die Träger kamen schweißgebadet und
erschöpft auf der Alp an und meinten stolz: «Fränku gehört zu uns!». Daran hatte ich keine Zweifel mehr …
Kalter Krieg in Bern
Es war im Frühjahr 1985 und ich wartete in einem Straßencafé am
Bärenplatz
in Bern auf die Übersetzung und Beglaubigung meiner Schulzeugnisse
zwecks Erlangung eines mexikanischen Arbeitsvisums.
Die Zeugniskopien hatte ich kurz vorher bei einer Notarin abgegeben.
Um die Zeit totzuschlagen, bestellte ich einen Kaffee und
ein Croissant und vertiefte mich in die Lektüre einer Zeitung.
Nach einer Weile nahm ich zwei slawisch klingende Stimmen in der vorderen Tischreihe wahr.
Es handelte sich wohl nicht um ein Liebespaar, doch die Frau sprach sehr intensiv mit dem Mann,
der mir den Rücken zukehrte.
Auf einmal hörte ich rechts von mir das Rascheln einer Zeitung. Mein Tischnachbar hatte sich
von mir unbemerkt hingesetzt und ebenfalls einen Kaffee bestellt. Ich sah aus dem Augenwinkel,
wie dieser eine Minox-Kamera
aus der Jackentasche zog und im Zeitungsfalz platzierte.
Etwas danach ritzte er einen Schlitz in den Falz und zentrierte die kleine silberne Kamera dahinter.
Das Klicken des Auslösers war wegen des Grundlärmpegels der Stadt kaum wahrnehmbar.
Ich hörte es dank meiner Nähe zum Nachbartisch dennoch und drehte mich unvermittelt nach rechts.
Der Minox-Mann bemerkte, dass ich ihn beobachtet hatte. Er sah mich direkt an, deutete mit dem Zeigefinger auf
seine Lippen und bat mich so, mir nichts anmerken zu lassen.
Die Kamera verschwand wieder in seiner Jackentasche, er legte das Kleingeld für den Kaffee
auf den Tisch und entfernte sich diskret. Ich war mir sicher: ich hatte soeben eine verdeckte
Observation eines Geheimdienstes beobachtet.
In México, kurz nach dem großen Erdbeben vom 19. September 1985,
war ich an den Vorbereitungen meines ersten mexikanischen Campamento (Landschulwoche).
Ich rekognoszierte das Rancho Alegre bei San Juan del Río,
welches vom Schweizer Walter Schumacher geführt wurde. Dort, in unmittelbarer Nähe einer thermalen Mineralwasserquelle,
sollten dann im April 1986 unsere Zelte stehen. Stolz zeigte mir Walter Schumacher seine riesige Ranch.
Beim Betreten der Käserei trafen wir auf einen traditionell jüdisch gekleideten Mann. Es stellte sich heraus, dass
dieser Rabbiner aus México D.F. hergefahren war, um die Käserei für die Zertifizierung von koscherem Käse zu begutachten.
Neugierig, wie ich bin, befragte ich den sehr gesprächigen Rabbiner zu den speziellen jüdischen Käsevorschriften.
Er erklärte mir, dass man kein Lab aus Kälbermägen verwenden dürfe und dass das hier verwendete Lab aus Kräutern gewonnen werde.
Das Lager wurde trotz einer frostigen Nacht zu einem vollen Erfolg. Die ganze 5. Klasse genoss das Bad im
30 Grad warmen, chlorfreien Mineralwasser im Innenhof der Ranch.
Da sich unmittelbar neben unseren Zelten die Fassung einer Artesischen Quelle befand,
konnten wir auf Spülmittel für den Abwasch verzichten. Der Wasserdruck war so groß, dass das Geschirr auch ohne blitzblank wurde.
Das Geräusch des Quellwassers, das gute fünf Meter weit spritzend in einem Bewässerungskanal der Ranch landete,
begleitete uns während der ganzen Woche.
Heizstrahler und PC
Für das Schuljahr 1986 wurde mir bei der Stundenplanung
der Informatik-Unterricht der 1. Sekundarklasse zugewiesen. In dem spärlichen Gepäck, das ich mit dem Botschafts-Container
nach México schiffen konnte, befand sich zwar meine lang vermisste Ovation-Gitarre,
aber leider kein Computer. Das Colegio Suizo de México hatte bereits damals
einen Computerraum mit 16 Original IBM PCs.
Doch dieser Raum war voll ausgelastet, sodass ich nur an den Wochenenden Gelegenheit hatte, mich auf das bevorstehende Schuljahr
vorzubereiten. Meine ZX81- und Spectrum-Kenntnisse halfen mir zwar,
dennoch wollte ich mir keine Blöße geben und gut mit dem IBM PC vertraut werden.
Also fuhr ich jeweils am Wochenende in die Schule, setzte mich allein an einen PC und lernte.
Mir war nicht bewusst, dass es im Winter in México-City bitterlich kalt werden kann und dass es da im Gegensatz zu
den Häusern in der Schweiz keinerlei Heizung gab. México war damals wirtschaftlich abgeschottet wie ein Ostblockland und
Personal-Computer kosteten mehr als 8000 Schweizerfranken. Also entschied ich mich zuerst für einen blechernen Heizstrahler
der Marke «Gradiente», Hecho en México.
Solange das Gerät nahe bei meinen Füßen stand, konnte ich so ein paar Stunden arbeiten und lernen.
Als ich endlich meinen mexikanischen Volkswagen «Caribe» (VW Golf 2) abgestottert hatte, konnte ich die Anschaffung eines
eigenen PCs planen. Im Warenhaus Sears fand ich einen IBM PC-kompatiblen Nachbau der Marke
TeleVideo für 2700 Dollar (≙ CHF 6210!). Das Gerät hatte einen
monochromen 12"-Bildschirm, 128k RAM und zwei 5¼" Diskettenlaufwerke mit je 360KB Speicherkapazität.
Nun konnte ich mir die Wochenendfahrten durch die Megastadt ins kalte Schulhaus ersparen und bequem zu Hause programmieren.
Durch einen Kollegen kam ich zu Programmiersprache Turbo Pascal, welche mir die Programmierung einer eigenen, mehrsprachigen Textverarbeitung
und Tabellenkalkulation ermöglichte.
Wir sind doch alle Brüder
1987, während der ersten Lektion mit meiner neuen 3. Klasse am
Colegio Suizo de México, versuchte ich auf eine spielerische Art,
die Kinder kennenzulernen. Dabei sollten die Schüler sich gegenseitig vorstellen. Durch die Familiennamen war es offensichtlich,
dass diese unterschiedlichste Herkünfte hatten (México, Schweiz, Deutschland, Österreich, Ungarn, Armenien).
Ich fragte jeweils nach und lag manchmal mit meinen Mutmaßungen über die geographische Herkunft völlig falsch,
was die Klasse zum Lachen brachte. Als Pädagoge hatte ich natürlich ein Ziel: ich wollte dem latenten Rassismus,
welcher in México nach wie vor herrscht, etwas entgegensetzen.
Kurz vor Ende dieser Unterrichtsstunde meldete sich ein aufgeweckter Schüler zu Wort: «Schön und gut, aber das bringt uns nicht weiter,
wir sind doch alle Brüder!». Ich war sprachlos und begeistert von der neuen Klasse.
Die Nichte des Präsidenten
Den Namen «Carlos Salinas de Gortari» hörte ich zum ersten Mal 1987,
ein Jahr vor seiner Wahl anlässlich einer Sabatina (privates Klassenfest an einem Samstag).
Der Vater einer meiner Schülerinnen, Industrieller und enger Freund des zukünftigen Präsidenten erwähnte ihn als
Destapado (Vorausbestimmter).
1988,
als Salinas zum Präsidenten von Mexiko «gewählt» wurde, stieß ausgerechnet eine seiner Nichten zu meiner Klasse
(die Kinder des Präsidenten besuchten dagegen die japanische Schule).
Mónica hatte es nicht einfach zu Hause, ihre Mutter widmete sich dem Sozialleben, während der Vater seinen Geschäften nachging.
Ihre Erziehung wurde an die «Chacha» (Dienstmädchen)
und unsere teure Privatschule delegiert. Auffallend waren ihre vielen, scheinbar ungeplanten Abwesenheiten.
Kurzfristig wurden diese jeweils vorher (mit absichtlich falschen Zeitangaben) angekündigt.
Die Familie fühlte sich (nicht grundlos) exponiert und befürchtete dauernd Anschläge und Entführungen.
Nach ihrer Rückkehr zum Unterricht erzählte sie mir manchmal von ihren Flügen im Präsidentenflugzeug nach San Antonio (USA).
Dort verbrachten sie jeweils einige Tage auf der Bush-Ranch.
So erfuhr ich, dass der Präsident Gitarre spielte, oft sein Lieblingslied «Nowhere Man» von den Beatles.
Mónica hatte einen Guarura (bewaffneter Leibwächter), der auch während des Unterrichts vor der Schule Wache stand.
Das hatte auch seine Vorteile, besonders auf Klassen-Ausflügen, denn da erhielten wir zusätzlich Geleitschutz durch einen
unscheinbaren, dunklen Dodge Dart mit schwer bewaffneten Präsidialgardisten (sie haben mir ihre Bewaffnung sogar vorgeführt).
Deshalb konnten wir einmal selbst zur Stoßzeit, den für normal Sterbliche gesperrten Periférico
mit dem Schulbus benutzen, um das Technikmuseum zu besuchen. Einer der kahl rasierten Agenten erklärte mir, dass er uns
den Rücken freihalten würde und sicherte mit seiner Pistole unter dem T-Shirt unseren Museumsbesuch.
Obwohl es Carlos Salinas de Gortari durch radikale Maßnahmen schaffte, die Inflation zu bändigen, verblieb ein zwiespältiger Eindruck
seiner Familie. Die Rede war von kriminellen und mafiösen Geschäften (u.a. Geldwäsche).
Fünf Prozent Becados
Wie alle Privatschulen in Mexiko, war auch die Schweizerschule verpflichtet, fünf Prozent sogenannte «Becados» (Stipendiaten) aufzunehmen.
Die Auswahl erfolgte aber nicht wie vorgesehen nach Bedürftigkeit der Kinder, sondern nach dem Prinzip der «Palanca» (Hebel, Brechstange).
Zu solchen Hebeln kam es durch Gefälligkeiten oder Seilschaften mit Behördenmitgliedern. Ich würde den Vorgang als Korruption bezeichnen,
in Mexiko nannte man dies Zugänglichkeit oder Offenheit für gute Lösungen.
Für die begünstigten Schüler waren diese Becas eine Chance, aber oft auch eine schwere Last. Meist aus bildungsfernen Familien der Unterschicht,
wurden sie mit einer sehr materialistischen Klasse konfrontiert, mit der sie nicht zurechtkamen. Die Lehrerschaft erfuhr nie offiziell,
wer zu den Becados gehörte, aber ihre kulturellen Unterschiede waren zu offensichtlich, um das gut gemeinte Geheimnis wahren zu können.
Während die Kinder der mehrheitlich gut betuchten Eltern ab 14 Jahren mit ihrem eigenen Wagen zur Schule kamen, wenn sie nicht vom Chauffeur
aus Vaters Unternehmen oder der Mutter hingefahren wurden, erreichten uns die Becados per Metro oder zu Fuß.
Nach dem Unterricht fuhren die Kinder der Reichen in ihre exklusiven Clubs, um Sport zu treiben, während die Becados als fliegende Straßenhändler
ihre Familien unterstützen mussten.
Nebst den materiellen stachen auch die kulturellen und soziolinguistischen Unterschiede hervor. Virtuos imitierten die Mexikaner die jeweils anderen
in Sprache und Gestik. Gemeinsam war ihnen nur der nationale Stolz, die Unabhängigkeit. Die inbrünstig gesungene Nationalhymne
mit Fahnengruß
zu jedem Wochenbeginn im Schulhof berührte mich auf besondere Weise.
1988, in einer Pause, konnte ich das ungläubige Gesicht eines Becados beobachten, als ein Klassenkamerad seine Visa Gold Card schwenkend in die Runde fragte,
wer ihn am Wochenende nach Acapulco begleiten möchte, die Villa seines Onkels
sei gerade nicht belegt. Die Bewohner des Pedregals flogen oft zum Shopping nach Miami
oder Dallas, während die fünf Prozent nicht wussten, ob sie am nächsten Tag genug zu essen hatten.
Die Schweizerschüler bildeten ebenfalls eine Minderheit. Ihre Eltern waren meist bei Schweizer-Großunternehmen (La Roche, Sulzer, UBS, Néstlé)
angestellt und nahmen deshalb automatisch am Leben der privilegierten Oberschicht teil.
Die gesellschaftlichen Schichten waren beinahe undurchdringlich. Der Austausch war im Alltag auf den Umgang mit dem Dienstpersonal beschränkt,
aber in der Schule prallten die zwei Welten aufeinander. Einige Schweizerfamilien hatten Mühe, sich den von ihnen erwarteten Lebensstil zu leisten.
Es gab spezielle Fonds, die ihnen dabei halfen. Europäisch aussehend gehörte man automatisch zur Oberschicht – eine Art inverser Rassismus.
Die wohl verletzendste Beleidigung im Alltag war «¡pinchenaco!» (Scheiß-Indianer), es gab aber auch subtilere Varianten wie «igualado»
(vermeintlich Angeglichener). An den Folgen dieser gesellschaftlichen Spaltung leidet das Land noch immer:
Kriminalität, Korruption, Macht der Drogenkartelle …
Auch der Sohn eines bekannten Drogenbosses besuchte unsere Schule. Während die meisten Eltern ihre Colegiatura (monatliches Schulgeld) per Scheck beglichen,
blätterte dieser seine Scheine jeweils aus einem mit einem Gummiband gesicherten Bündel auf den Tresen des Schulsekretariats.
Das Schulgeld entsprach etwa dem fünffachen Minimallohn eines Arbeiters!
Trotz all dieser widrigen Umstände erlebte ich die Menschen in Mexiko als sehr liebenswert und gastfreundlich. Besonders auffallend war die Menschlichkeit bei der armen, ländlichen Bevölkerung.
Video-Piraten
Meine ehemaligen Sechstklässler besuchten 1988 die Secundaria des Colegio Suizo de México.
Eines Morgens kam es während der zweiten Pause zu einem Tumult beim bewachten Eingangsportal der Schule.
Da stand ein Umzugs-Lastwagen und der Hauswart schleppte mit ein paar Männern den Hausrat seiner Familie durch das Portal.
Im Lehrerzimmer erfuhr ich dann, was geschehen war. Einer meiner ehemaligen Schüler hatte zusammen mit dem Hauswart
einen florierenden Videokassetten-Handel aufgezogen.
Der Hauswart kopierte in seiner Wohnung innerhalb des Schulgeländes die Sex-Videos (wohl vom Schwarzmarkt
im Centro Histórico), welche er dann zusammen mit dem Schüler an interessierte Schulväter verhökerte.
Vermutlich war das die Schwachstelle, denn die Kassetten waren als harmlose Disney-Filme getarnt.
Der Schüler durfte die Schule per sofort nicht mehr betreten und der Hauswart verlor seine Stelle.
Für letzteren waren die Folgen dramatisch, verlor er doch sein sicheres, für mexikanische Verhältnisse anständiges Einkommen.
Der Schüler S. B., Sohn einer reichen Einwandererfamilie, wechselte einfach auf die nächste teure Privatschule.
Liebfraumilch und Beethoven
Kurz nach meinem 32. Geburtstag meldete sich ein Mädchen nach der Deutschstunde bei mir und meinte traurig:
«Ich glaube, meine Eltern werden sich scheiden lassen.». Ich fragte behutsam, wie sie auf diese Idee gekommen sei.
Sie meinte, ihre Eltern hätten sich nach dem Noticiero (Tagesschau) lange angesehen und dann zu weinen begonnen.
Sie verstehe aber nicht, warum sie danach Sekt getrunken hätten. Das unschuldige und verständnislose Gesicht von Stephanie Ubrig
werde ich nie vergessen. Ihre Eltern waren aus Deutschland und das ungewohnte Verhalten war leicht zu erklären:
Am 9. November 1989 war in Berlin die Mauer gefallen.
Ich erklärte Steffi die Ursache der Tränen, beruhigte sie und meinte, sie solle sich den 9. November gut merken,
ihre Kinder würden dieses Datum später in den Geschichtsbüchern finden.
Im Oktober 1990 lud dann die Botschaft der BRD
alle Deutschsprechenden (!) an das Wiedervereinigungsfest im Goethe-Institut ein. Es gab eine Videoprojektion des Mauerfalls,
Reden, Beethovens 9. Symphonie, Canapés und Liebfraumilch. Kurz darauf wurden die Bibliotheken beider deutschen Kultur-Institute
zusammengelegt und ich erhielt die Gelegenheit, den Códice Maya de México in der Hand zu halten!
Obwohl (oder weil) der eiserne Vorhang zerfiel, fand noch im selben Jahr im Einkaufszentrum Plaza Inn
eine Kulturausstellung der Sowjetunion statt. Dort kaufte ich mir ein Exemplar des Jugendmagazins Sputnik
und staunte über die Propagandasprache, die ich bis dahin nur aus dem Kurzwellensender Radio Moskau kannte.
Nürnbergs Sound
1991 jährte sich der Rütlischwur zum 700. Mal. Auch in der Schweizerkolonie von Mexiko-Stadt sollte dieser Anlass angemessen
gefeiert werden. Am Colegio Suizo de México wurde ich dem OK zugeteilt und war für die Beschallung und Notstrom-Energieversorgung
verantwortlich.
In dieser Vor-Internet-Zeit nutzte ich die Sección Amarilla des riesigen lokalen Telefonbuchs und suchte
nach geeigneten Unternehmen. Schließlich wurde ich fündig: Electroingeniería de Precisión S.A. konnte die Beschallung bewerkstelligen.
Auf niedrigen Kindergartenstühlen setzte ich mich mit Ingeniero Otto Sartorius zusammen und wir planten die Beschallung
des riesigen Geländes der Schule und des benachbarten Schweizer-Klubs.
Dabei stellte sich heraus, dass Herr Sartorius fließend Deutsch sprach und natürlich fragte ich nach seiner Biographie.
Die Sitzung verlängerte sich dadurch entscheidend, denn seine Erzählung begann bei seiner Lehre bei Telefunken in Nürnberg.
Er schwärmte vom Beschallungssystem, welches auf dem Zeppelinfeld bei den Reichsparteitagen der NSDAP zum Einsatz kam:
Von den Verzögerungsleitungen, welche die Laufzeiten bei der Beschallung ausglichen, von den Kondensatormikrophonen,
Leistungsverstärkern und Rundstrahl-Pilzlautsprechern.
Er meinte noch trocken, die Beschallung von Schule und Klub sei kein Problem,
er würde auch Drahtlosmikrophone liefern und im übrigen hätte er mit den Nazis nichts am Hut gehabt.
Vor kurzem war ich in Nürnberg und habe das Zeppelinfeld und Albert Speers Kongreßhalle besucht.
War sich wohl Otto Sartorius bewusst, dass er mit seiner Arbeit damals die Propaganda von Kriegsverbrechern unterstützt hatte?
Ich hatte trotz seiner großartigen Technik ein schlechtes Gefühl.
Am 27. August 1996 geschah Merkwürdiges. Ich befand mich mit meiner Klasse in einer Landschulwoche in
Les Pontins sur St-Imier. Meine Frau Maricarmen widmete sich der Küche und unseren beiden Kinder Thomas und Mariana.
An diesem Dienstag unternahmen wir eine Exkursion nach La Chaux-de-Fonds.
Nach der Anreise per Zug besuchten wir das lokale Uhrenmuseum.
Danach aßen wir gegenüber des monumentalen Carillon
unsere Sandwiches und bestaunten das Kunstwerk. Anschließend erhielt die Klasse die Gelegenheit, das Städtchen auf eigene Faust zu entdecken.
Ich war froh, mich während dieser zwei Stunden meiner Familie widmen zu können, denn besonders mein Sohn litt unter dem Lagerbetrieb.
Wir bummelten gerade an einem kleinen öffentlichen Park vorbei, als einige Schüler der Klasse gestikulierend auf uns zu kamen.
Ich verstand nur, dass meine Anwesenheit dringend erforderlich war: «Jan, Kind, verletzt, HIV, Drogen, Polizei …».
Jan Samuel Pfäffli, ein Knabe meiner Klasse, stand verstört zwischen zwei Polizisten und einer Frau, welche aufgeregt auf
die Polizisten einsprach. Diese scheiterten beim Versuch, Jan zu befragen. Jans Französisch war gar nicht so schlecht,
doch die Emotionen und das fehlende medizinische Vokabular verunmöglichten eine Kommunikation.
Das Schlüsselwort war « la seringue » (die Spritze). Die Frau beschuldigte Jan in brüchigem Französisch,
als Drogenkonsument unsorgfältig mit seiner Spritze umgegangen zu sein und dabei das von ihr betreute Kleinkind verletzt und mit HIV infiziert zu haben.
Ich konnte die Polizisten schließlich davon abhalten, Jan allein abzuführen und bestand auf meiner Anwesenheit während der offiziellen Befragung.
Inzwischen war auch meine Familie hinzugekommen. Mein Sohn weinte, als ich in den Kastenwagen der Polizei stieg, um Jan und einen weiteren Zeugen zu begleiten.
Der Postenkommandant meinte schmunzelnd: « Mais qu'est-ce que c'est cette histoire, messieurs!? ».
Nach meinen Auskünften und der Angabe unserer Personalien, wollte man uns auf die Straße entlassen.
Ich bestand aber darauf, sofort zum Bahnhof gefahren zu werden, da unsere Klasse sonst ohne Aufsicht wäre und wir den Zug nach St-Imier
verpassen würden. Also wurden wir mit Blaulicht zum Bahnhof chauffiert.
Wochen später stellte sich heraus, dass es sich bei der ominösen Frau um einen bosnischen Flüchtling handelte.
Sie hatte den Versuch unternommen, durch eine polizeiliche Untersuchung ihrer drohenden Abschiebung zu entgehen.
Diese absurde Geschichte nahm ein gutes Ende, aber:
Es war 2001, als mich meine Kollegin Petra aus der Mittelstufe um Rat bat.
Sie hatte in ihrer Klasse einen neuen Schüler, oder war es eine neue Schülerin? In der Meldung der Gemeinde stand,
dass eine türkische Familie mit drei Kindern zugezogen sei. Leider war unklar, ob es sich um zwei Schwestern und einen Bruder
oder um zwei Brüder und eine Schwester handelte und aus dem türkischen Namen «Ümmu Gülsüm» war dies für uns nicht erkenntlich.
Ich versprach ihr, das androgyne Wesen in der 10-Uhr-Pause zu beobachten. Ümmu Gülsüm bewegte sich kaum und sprach noch kein Deutsch,
ich kam also so nicht weiter. Deshalb suchte ich im Internet nach einem Menschen gleichen Namens. Auf einer deutschen Seite wurde ich fündig:
Es musste sich um ein Mädchen handeln. Das Thema Geschlecht ist für gläubige Muslime delikat und so war Petra sehr erleichtert über meine Rückmeldung,
konnte sie doch dem Mädchen die Peinlichkeit ersparen, beim Turnunterricht in die falsche Garderobe geschickt zu werden.
Der Zufall wollte, dass Ümmü Gülsüm in der Oberstufe in meine 7. Klasse kam. Am Ende der obligatorischen Schulzeit pflegte ich jeweils
eine dreitägige Schulreise ins Tessin durchzuführen. In dieser lockeren Atmosphäre erzählte ich ihr von den Sorgen,
welche ihr uns fremder Name verursacht hatte. Sie kugelte sich vor Lachen und klärte uns auf.
Ümmü und Gülsüm seien die türkischen Namen der Töchter Mohammeds und ihr gläubiger Vater habe diese speziell für sie ausgesucht.
Sind wir in Frankreich?
Meine Landschulwochen führten uns immer in die Romandie, um die Lernenden die französische Sprache erleben zu lassen.
Während einer Landschulwoche 2005 in La Chaux-du-Milieu (La Brévine) war auch
eine Wanderung über die grüne Grenze nach Frankreich vorgesehen. Offensichtlich war bei der Anreise der Horizont
einiger Zöglinge auf den Bildschirm ihrer Mobiltelefone begrenzt, denn bereits am Bahnhof Le Locle
kam die unschuldige Frage auf: «Sind wir jetzt in Frankreich?»
Die französischen Schilder und Reklametafeln hatten das Weltbild der Deutschschweizer, welche die französische Sprache
bis dahin nur aus dem Unterricht kannten, völlig erschüttert. Ich musste ihnen versprechen, sie auf der Wanderung am dritten Lagertag
rechtzeitig auf die Landesgrenze hinzuweisen …
Unsere Größe
Seit rund zwanzig Jahren ist es an unserer Schule Usus, mit den 9. Klassen eine Exkursion in das ehemalige Konzentrationslager
Natzweiler-Struthof zu unternehmen. Ich kam auf die Idee,
als durch eine Lehrer-Rochade eine ausgefallene Schulreise nachgeholt werden musste. Der damalige Schulleiter vermutete, dass mein Anliegen
von der Schulkommission abgelehnt werden würde, da es sich um einen Ausflug ins Ausland handle. Zum Glück wurde mein Gesuch doch bewilligt.
Es war nicht immer einfach, alle notwendigen Papiere für die Einreise nach Frankreich zu bekommen, da sich manchmal auch Asylsuchende mit dem
«Ausländer-Status N» (=geduldet) in unseren Klassen befanden.
2012, während des Besuchs der Museumsbaracke innerhalb des Lagers,
stellten meine Schüler viele Fragen, was mich natürlich freute. Richtig stolz wurde ich auf sie, als sie mich auf das Verhalten eines Lehrers
und seiner Gymnasialklasse aus Deutschland aufmerksam machten. Mehrere modisch gekleidete Mädchen im Alter von etwa 15 Jahren machten sich über
die gestreifte Häftlingskleidung in den Vitrinen lustig: «Toll, gibt’s das auch in meiner Größe?».
Meine Klasse meinte sinngemäß: «OK, diese Mädchen sind doof, aber warum reagiert ihr Lehrer nicht?».
Ich war von ihrer Reaktion begeistert und sagte ihnen: «Bravo 9c, mehr gibt es dazu nicht zu sagen!». Ich hatte Zweifel, ob der deutsche Kollege
seine Klasse auch gründlich und sorgfältig auf die Exkursion vorbereitet hatte.
Sofiia
In der Folge des russischen Überfalls kam 2022 auch Софія Антонова an unsere Schule.
Sie hatte bis zum Kriegsausbruch in Kiew die Schule besucht und im Gegensatz zu den vielen anderen Geflüchteten,
sprach sie schon recht gut Deutsch. Ich unterrichte an ihrer Klasse «MI» (Lehrplan 21: Medien und Informatik)
und wir erstellten zusammen eine rudimentäre HTML-Seite.
Ich bat sie in der ersten Lektion nach ihrer Ankunft, uns auf Google Maps & Street View ihr Zuhause und den Fluchtweg zu zeigen.
Sie war zuerst eher zurückhaltend, doch gewann dann etwas Vertrauen (erzählen hilft eigentlich immer …).
«Dieser grausame Krieg wird einmal zu Ende gehen. Stell dir vor, du seist Reiseführerin und zeigtest uns die schönsten
Orte in der Ukraine.». Ihre folgenden Erklärungen waren knapp, aber zusammen mit den projizierten Bildern erlebten wir
eine eindrückliche Geografie– und Geschichtsstunde.
Ende des Schuljahres, kurz vor ihrem Eintritt in das Gymnasium Hofwil, fragte ich Sofiia nach ihren Erfahrungen mit dem Schweizer Schulsystem.
Sie antwortete knapp, aber treffend: «In der Ukraine sind Lehrer und Schulen schlecht, aber die Schüler sind interessiert.
Hier gibt es eine gute Schule, gute Lehrer, aber die Schüler sind faul!»
Du Opfer!
Ich erachte mich als aufgeschlossen, was die Jugendsprache betrifft. Mit einer Ausnahme: «Du Opfer!»,
diesen Ausdruck lehne ich ab, da ich im schulischen Umfeld Opfer kennengelernt habe: Das Opfer des sexuellen Missbrauchs,
das mit der Familie aus der Tschechoslowakei geflüchtete 9-jährige Mädchen in der Nachbarschaft,
die politischen Flüchtlinge mit ihren Kindern aus Chiles Militärdiktatur,
das 14-jährige Folteropfer serbischer Freischärler aus dem Kosovokrieg,
das ebenso 14-jährige traumatisierte Mädchen aus dem bombardierten Belgrader-Bunker,
das Flüchtlingskind aus dem kurdischen Irak, der vom russischen Bombardement traumatisierte Knabe aus
Mykolaiv. Und nicht zu vergessen, die vielen Opfer von Ausgrenzung, Erniedrigung und Gewalt unter Jugendlichen.
Hat die Gewalt in der Welt zugenommen? Sind Jugendliche heute «schlimmer»? Nein, aber wir sehen zum Glück genauer hin.