𝕰𝖗𝖎𝖓𝖓𝖊𝖗𝖚𝖓𝖌𝖊𝖓

Als pensionierter Lehrer ha­be ich nun Zeit und Mu­ße, ein paar präg­nan­te Er­leb­nis­se nie­der­zu­schrei­ben.


Biel/Bienne

Die anderen Sprachen

Als Kleinkind, lange vor meiner Einschulung, nahm ich wahr, dass es andere Sprachen gibt. Meine Eltern besaßen nie ein Auto, sodass wir immer den Trol­ley­bus benutzten, um in die Stadt zu fahren. Die roten Trolleybusse waren alt, hatten an der Längsseite Bänke aus abgewetztem Leder und rochen nach Schweiß und Rauch. Meist waren sie gerappelt voll mit Arbeitern. Zu Stoßzeiten versah man sie mit holprigen An­hän­gern, die im Win­ter we­gen der Hei­zung nach Pe­tro­leum ro­chen.

Durch die Lautsprecher kündete der Chauffeur jeweils die angefahrene Haltestelle an. Je nach Muttersprache des Chauffeurs ertönte zuerst der deutsche oder französische Name. Und die Zweitsprache des Chauffeurs tönte in meinen Ohren «komisch», aber interessant: Pont du Moulin – Mühle­brücke; Pla­ce Cen­tra­le – Zentral­platz; Place de la Fontaine – Brunnenplatz; La Gare – Bahnhof. Dazu kamen die Sprachen der Fremd­ar­bei­ter, wie man die Sai­son­niers damals nannte, vor allem Ita­lie­nisch und Spa­nisch. Wie kann man Spra­chen nicht in­ter­es­sant fin­den?

Es kam vor, dass ich meine Großmutter, eine typische Stadtbielerin, in die Bäckerei begleitete. Sie sagte dann Sätze wie: «Es Miuchbuurebrot, si’l vous plaît.» oder «Auso, uf widerluege et bon dimanche!». Überhaupt hatte sie viel von den «Wel­schen», denn sie war im­mer ge­schminkt und trug far­ben­fro­he Klei­der.

In der ersten Klasse lud mich einmal ein Klassenkamerad zum Spielen nach Hause ein. Er lebte mit seiner Familie im Ar­bei­ter­quar­tier «Vor­hölz­li», in den «Tsching­gen-Ba­ra­cken» am Dorf­rand von Biel-Mett. Ihre Baracke war spartanisch eingerichtet. In der Ecke stand ein elektrisches Ré­chaud mit zwei Herdplatten, es gab einen Tisch, ein paar Stühle und Ka­jü­ten­bet­ten. Die Wäsche hing zum Trocknen an Schnüren zwischen den Baracken und draußen befand sich eine Ge­mein­schafts­toi­let­te mit Was­ser­an­schluss. Es roch un­an­ge­nehm und ich hör­te ver­schie­de­ne Spra­chen, vor al­lem Ita­lie­nisch.


Gebrochener Daumen

1966 war ich in der zweiten Klasse und wir hatten oft Streit mit den Wel­schen. Die Welschen waren die französischsprachigen Schüler aus dem ersten Stock im Gey­is­ried-Schul­haus. Meine damalige Lehrerin, die An­thro­po­so­phin Elisabeth Bühler, war zugleich Taufpatin meines Bruders, kinderlose Ehefrau meines Taufpaten und Oberlehrers und gut mit meinen Eltern befreundet! Dieser Umstand und der Zeit­geist der Sech­zi­ger­jah­re verhinderten wohl, dass die Misshandlungen der Kinder, welche ihr an­ver­traut wa­ren, je ir­gend­wel­che Fol­gen ge­habt hät­ten.

Die besagte Dame hatte uns wohl während der 10-Uhr-Pause bei den Streitereien mit den Welschen beobachtet, denn nach der Pause wurden ein paar Knaben unserer Klasse namentlich nach vorne gerufen. Sie redete nicht viel, atmete aber erregt ein und aus. «Ihr wisst natürlich, was jetzt auf euch zukommt: ein Töt­zi!», sagte sie genüsslich und zog ihre schwarzen Lederhandschuhe an. Dann holte sie aus der obersten Schublade ihres Pultes ein schwarzes Lineal aus Aluminium hervor und stellte sich vor uns hin.

Einer nach dem andern mussten wir eine Hand ausstrecken und ihre Schläge auf die geöffnete Innenseite entgegennehmen. Ich war als letzter dran. Als sie mit dem Lineal herunterzog, drehte ich instinktiv meine Hand so ungeschickt, dass der Schlag meinen Daumen auf der Außenseite traf. Der Schmerz war groß und die Tatsache, dass ich dabei einen Knochenbruch erlitt, erfuhr ich erst als Erwachsener, als mir einmal der Arm ge­röntgt wurde.

Frau Bühler schmiss theatralisch Lineal und Handschuhe in eine Ecke und meinte: «So ein Dreck! An eure Plätze!» Ich traute mich nicht, zu Hause etwas von diesem Vorfall zu erzählen und versteckte meinen geschwollenen Daumen so geschickt, dass meine Eltern nichts von der Verletzung mitbekamen. Auch zu Hause kam es zu kör­per­li­chen Züch­ti­gun­gen, allerdings nie se­xuell auf­ge­la­den, wie bei Frau Büh­ler …

Als Kind war es mir damals nicht möglich, ihr Verhalten zu verstehen. Ich dachte nur: diese Frau ist krank im Kopf. Heute weiss ich, dass meine Lehrerin eine pä­do­kri­mi­nel­le Sa­di­stin war.


Hasenfratz im Kiental

Als fünfköpfige Familie war unser finanzieller Spielraum begrenzt. Trotzdem fuhren wir ab und zu eine Woche in die Ferien. Oft geschah dies mittels Wohnungstausch, welchen meine Mutter brieflich über eine spezielle Agentur organisierte. 1966 ver­brach­ten wir so eine Wo­che in der Leh­rer­woh­nung des Schul­hau­ses Kien­tal im Ber­ner Ober­land.

Ohne Auto bestanden unsere Ausflüge meist aus längeren Wanderungen, die ich nie besonders mochte. Ausnahmsweise benutzen wir ein Post­au­to oder sogar eine Bergbahn. Eines Tages stand ein Ausflug auf die Gries­alp auf dem Programm, wo wir den Hexenkessel des Gamchibaches besichtigen wollten. Auf dem Dorfplatz standen drei Autocars und ein Chauffeur las die Familiennamen von einer Liste, damit die Passagiere ihre reservierten Plätze einnehmen konnten. Als er «Familie Hasenfratz» aufrief, lachten wir drei Brüder laut­hals los, denn so ei­nen lus­ti­gen Na­men hat­ten wir noch nie ge­hört.

Doch das Lachen verging uns schnell, als Vater meinem Bruder Christoph eine Ohrfeige verpasste. Dieser begann zu weinen und wir verstanden überhaupt nichts mehr. Vater zischte nur: «Seid sofort still!» Während der Wanderung erklärte er uns dann, dass Hasenfratz ein jü­di­scher Fa­mi­lien­na­me sei und dass ihn die Situation bei den Autocars an die Se­lek­tio­nen der Nazis habe denken lassen. Die Ohrfeige sei eine Überreaktion gewesen, aber wir soll­ten daraus ler­nen, uns nie über an­de­re Men­schen lus­tig zu ma­chen.

Erst beim Schreiben dieser Zeilen fand ich heraus, dass Kiental ein geschichtsträchtiger Ort ist. An der geheimen Kien­ta­ler Kon­fe­renz fanden Planungen der Kom­mu­ni­sti­schen In­ter­na­tio­na­len statt.


Radioaktiv

1966 erhielt ich meine erste Armbanduhr als Geburtstagsgeschenk von meiner Großmutter mütterlicherseits. Meine Mi­do hatte ein Fe­der­werk und hellgrüne Leucht­zif­fern. Ich war stolz und glücklich, denn für ein Bieler-Kind war eine Schweizeruhr ein wichtiges Accessoire. Etwa zu dieser Zeit statteten wir der Taufpatin meiner Mutter, welche schwer erkrankt war, einen Be­such ab. Sie hatte bis zu ihrer Erkrankung als «Radiumeuse» in Heimarbeit Zifferblätter für die Uhrenindustrie mit einer Ra­dium-Phos­phor-Far­be bepinselt. Heimarbeit bedeutete Arbeit im Akkord, man wurde nicht nach Arbeitszeit, sondern nach Stückzahl bezahlt. Die an Kehl­kopf­krebs erkrankte Frau zeigte uns ihr «Établi» (klei­ner Ar­beits­tisch im Schlaf­zim­mer) mit den typischen Utensilien einer «Radiumeuse» (Ra­dium-Ar­bei­ter­in). Obwohl der Einsatz von Ra­dium-226 schon seit 1963 verboten war, schafften es die Behörden nicht, die vie­len Heim­ar­bei­ter­in­nen zu kon­trol­lie­ren.

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Radioaktivität

Nur drei Jahre später erfuhr ich von einem Klassenkameraden, dessen Vater einen kleinen Zulieferbetrieb für Zifferblätter betrieb, dass die kantonalen Strah­len­schüt­zer bei ihnen eine Inspektion durchgeführt hätten. Die italienischen und spanischen Arbeiterinnen hätten den Junior gebeten, doch an ihrer Stelle in die Probe-Becher zu pinkeln. Sie befürchteten den Verlust ihres Arbeitsplatzes wegen einer Überschreitung der ma­xi­mal zu­läs­si­gen Strah­len­be­las­tung.

In den Sechziger-Jahren herrschte eine naive Zukunftseuphorie, man ging sorglos mit der Umwelt um. Rauchende Schornsteine sah man als Zeichen der Vollbeschäftigung und nicht als Gefahr. Regelmäßig brannte der Stadtmist im Mett­moos und stank bestialisch. Nebst Tierkadavern und Hausmüll wurden dort auch Industrieabfälle entsorgt (ich war Augenzeuge). Heute weiß man, dass es noch wei­te­re In­du­strie­de­po­nien gab.

2018 erschien ein Be­richt des schweizerischen BAG zu den Radiumleuchtfarben und eine Online-Karte mit bekannten Arbeitsstätten und kei­ner der mir be­kann­ten Or­te war da­rauf ver­merkt!


Radio

In meiner Familie durfte nur mein strenger Vater das Radio bedienen. Es handelte sich um einen Philips-Röh­ren­emp­fän­ger mit Te­le­fon­rund­spruch. Immer nach dem Mittagessen, kurz vor halb Eins, schaltete Vater das Gerät ein und richtete seine Armbanduhr nach dem Zeit­zei­chen, das vor den Hauptnachrichten aus Neuchâtel gesendet wurde. Bis zur fünften Klasse war dies mein ein­zi­ges Fen­ster zur Welt und da­bei dür­ste­te ich nach mehr.

Vom ersparten Taschengeld wollte ich mir ein kleines Tran­sis­tor­ra­dio kaufen, wel­ches ich in einem Coop-Ka­ta­log ent­deckt hat­te. Ich fuhr also mit dem Fahrrad in die Stadt, verlangte im Kaufhaus Burg nach dem kleinen japanischen Wunderding mit Namen «Mandarin» und legte die abgezählten 16 Franken 80 auf den Tresen. Die Enttäuschung war groß, als ich erfuhr, dass da noch 3 Franken für die Konzessionsmarke zu bezahlen wären. Ich fuhr also unverrichteter Dinge nach Hause und bat meine Mutter verzweifelt um den fehlenden Betrag. Sie hat­te Mit­leid und mein­te nur: «Va­ti darf da­von nichts er­fah­ren!»


Mein Radio

Also radelte ich nochmals in die Stadt und konnte endlich meinen Transistor kaufen. Glücklich und vom Regen durchnässt kam ich zu Hause an und probierte gleich an dem Gerät herum. Tagsüber konnte man nur zwei Mit­tel­wel­len-Sender empfangen: Be­ro­mün­ster und Sot­tens. Ich versteckte meinen Schatz zuunterst im Bettzeugkasten und versuchte es erneut nach dem Zubettgehen. Als alles still war und meine beiden Brüder eingeschlafen waren, zog ich das Gerät hervor und schaltete es mit eingestecktem Ohr­hö­rer ein. Da war es, das Fenster zur Welt: Ra­dio Lu­xem­bourg und vie­le wei­te­re Sen­der und Spra­chen – wun­der­bar.

Nur ein halbes Jahr später zwang mich ein Beinbruch, den ich mir beim Skifahren hinter dem Schulhaus mit altmodischen Kandahar-Bindungen zugezogen hatte, 3 Wochen ins Bett. Ohne das Transistorradio wäre diese Zeit unerträglich gewesen. Mein größtes Pro­blem war der Ener­gie­hun­ger des Radios, doch meine Mutter hatte Erbarmen und besorgte mir regelmäßig Ersatz für die eckigen 9V-Bat­te­rien. So waren auch die Schul­ar­bei­ten, wel­che ich im Bett zu schrei­ben hat­te, aus­zu­hal­ten.

Wieder gesund, baute ich einen Lautsprecheranschluss in das kleine Ding. So konnte ich in Abwesenheit meines Vaters den Lautsprecher seines Lenco-Kof­fer­plat­ten­spie­lers an­schlie­ßen. Der plär­ren­de kleine Japaner hat­te nun einen an­sehn­li­chen Klang.

Zu dieser Zeit kaufte sich auch meine Großmutter ein neues Radiogerät und ich durfte das Bien­no­pho­ne-Röhrenradio meines verstorbenen Großvaters mit nach Hause nehmen. In Großmutters Wohnung entdeckte ich eine Antenne mit Ba­na­nen­ste­cker-Anschluss. Sie erzählte mir, dass ihr Mann während des Krieges täglich BBC gehört und an einer Europakarte an der Wand mit Stecknadeln den Frontverlauf ak­tua­li­siert habe. Ich nahm mir vor, eben­falls auf Kurz­wel­len­jagd zu gehen.

Leider stieg Großvaters Röhrenradio nach einem Jahr endgültig aus, lief aber lange genug, um mir einen Eindruck des Ge­sche­hens auf Kurz­wel­le zu liefern. Dank des Radios konnte ich inzwischen in der Schu­le mit­spre­chen, denn ich hat­te eine Ah­nung vom Welt­ge­sche­hen.


Verbote

1969 bestand ich die Prüfung für die Sekundarschule und erwartete gespannt den Schulhauswechsel. Meine Eltern besuchten vorgängig die Vorstellung der neu erbauten Sekundarschule «Sah­li­guet». Mein Vater, Primarlehrer, erzählte mir von diesem Elternabend: «Die Kollegen aus der Sekundarschule erschienen mir recht altmodisch.». Als ich nachfragte, weshalb «altmodisch», meinte meine Mutter, alle Mädchen müss­ten Rö­cke tra­gen, ihnen sei­en Jeans und der­glei­chen nicht ge­stat­tet.

Ich war einigermaßen erstaunt, da ich in der Primarschule bereits die Mädchen der Oberstufe in Mi­ni­rö­cken bewundern durfte. Ich fand dieses Verbot völlig ungerecht und schwor mir, falls ich als Erwachsener je Einfluss auf Kleiderregeln haben sollte, diese umgehend abzuschaffen. Wer konnte ahnen, dass diese antiquierte Kleiderregel für Mädchen noch im selben Schuljahr abgeschafft würde. Schon im folgenden Frühjahr schlossen wir Wetten ab, wer die Höschen-Farben der Mädchen unserer Klasse als erster korrekt erkannt hatte – dem Minirock sei Dank. Die Mode wechselte zu schnell für un­se­re kon­ser­va­ti­ven Lehr­kräf­te.

Während der ersten 30 Schuljahre als Lehrer war Ruhe, die Kleiderregeln betreffend. Doch dann kam der Ju­go­sla­wien­krieg und schon ging die Kleider-Diskussion von neuem los. Unter anderem wurden gestreifte Trainerhosen (damals Standard bei Menschen aus Ex-Jugoslawien) zur unerwünschten Kleidung erklärt! Ein unerklärlicher Konservatismus brach sich Bahn, und dies nur wenige Jahre nachdem die Mädchen der Oberstufe bei Badeausflügen jeweils oben oh­ne sonnenbadeten! Dann ging es wei­ter mit Lö­chern in der Klei­dung, bauch­frei­en Tops, sicht­ba­ren BH-Trä­gern …

Mir taten die Jugendlichen leid. Wie sollten sie sich noch von der Generation ihrer Eltern und Lehrer abheben? Kein Wunder, begannen sie ihre Mobiltelefone in diesem Sinne zu nutzen. Uns Lehrern ist zum Glück der Zugriff auf ihre Geräte verboten! Meine Lehre aus diesen Erfahrungen: Regeln sind dem Zeitgeist, dem Ort und vielen weiteren Faktoren unterworfen. In den Sechzigern lau­te­te ein Slo­gan: Ver­bie­tet das Ver­bie­ten!


Gogo

Da ich durch meine zwei Kindergartenjahre ein Jahr älter war als die meisten meiner Mitschüler, hatte ich bereits 1971, in der 7. Klasse, ein Mo­fa. Dieses hatten mir meine Eltern geschenkt, um mir den langen Schulweg ins Gymnasium zu erleichtern. Das letzte Teilstück dieses Schulwegs war die überaus steile Alpenstraße zum «Af­fen­ka­sten», wie das Gebäude wegen seiner Tier­reliefs genannt wurde.

Es war üblich, dass die Mofafahrer den Radfahrern ihren Oberarm anboten, sodass sich diese ziehen lassen konnten. Natürlich kannten wir uns nicht alle mit Namen, so kam es vor, dass mich jemand mit dem Modell­namen meines Mofas (Batavus Gogo) ansprach, um gezogen zu werden. So wurde Gogo zu meinem Spitz­na­men.


Blues gegen Trauma

1972 im Gymnasium hieß das Schulfach «Musik» nicht mehr «Singen», wie noch in der Sekundarschule. Ich empfand dies als falsch, denn singen ist doch wie gehen – eine Grundfertigkeit! Der Klassenlehrer belehrte uns, dass die Fertigkeit auf der Gymnasialstufe breiter gefasst würde und dass unser Musiklehrer ohnehin nicht singen könne! Dem Protest der Klasse zuvorkommend erzählte er uns, dass Herr Fries als Auschwitzüberlebender be­son­ders emp­find­lich auf Ge­sang re­agie­re. Un­ser Ver­ständ­nis hielt sich da noch in Gren­zen.

Bisweilen betrat der besagte Herr Fries das Musikzimmer und bemerkte ernst: «Heute geht es leider nicht… ich werde Ihnen etwas vorspielen». Dann setzte er sich an den schwarzen Flügel und übersetzte sein Trauma in Boogie-Woogie und Blues-Improvisationen. Diese virtuosen Haus-Konzerte waren so ausdrucksstark, dass sie keiner Worte bedurften. Im Sommer konnte man einen Blick auf seine tätowierte Häftlingsnummer am linken Unterarm erhaschen. Jetzt hat­te ich vol­les Ver­ständ­nis für sei­ne Ein­schrän­kun­gen.


Flügel

Ich spielte damals Geige im Schülerorchester des Gymnasiums. Herr Fries war sehr introvertiert, aber einmal stellte er uns eine Eigenkomposition vor: Fries’ Swing (mein erster Kontakt mit Jazz). Wir spiel­ten den Swing zwar nur als Étu­de, aber ich hat­te Feu­er ge­fan­gen.

Durch das Radio kam ich auf die Schallplatte Switched-On Bach von Walter Carlos. Ich fand die Moog-Synthesizer Version von Bachs Kompositionen spannend und nahm die Platte mit in den Musik-Unterricht. Herr Fries war (im Ge­gen­satz zu mei­nem Va­ter) so­fort be­gei­stert da­von, ko­pier­te die­se auf Band und setz­te sie im Un­ter­richt ein.

An einem guten Tag erzählte er einmal sei­nen Lieb­lings­witz: Jemand rief: «Hei­ße Würst­chen!» Ich ant­wor­te­te: «An­ge­nehm, hei­ße Fries.»


Toleranz

Ich war nie besonders religiös und die unterschiedlichen Glaubensbekenntnisse meiner Mitmenschen nahm ich kaum wahr. Im Gymnasium änderte sich dies, denn meine jüdischen Mitschüler durften am Schabbat nicht schreiben. Sie waren also gezwungen, das jeweils Verpasste nachzuarbeiten. In Biel war der Umgang mit ihnen sehr tolerant. Auf einer Klassen-Party bei Angel, einem jüdischen Mitschüler, offerierte uns seine orthodoxe Mutter mit großer Selbst­ver­ständ­lich­keit Bro­te mit Schin­ken – To­le­ranz auf al­len Sei­ten.

Am Tag des Münchner Attentats (5. September 1972) hörte ein jüdisches Mädchen während des ganzen Unterrichts die Radio-Reportagen. Liselotte hatte das Ohrhörerkabel unter ihrem Pullover und ihren langen Haaren versteckt. Ich bin mir sicher, dass unser Klassenlehrer dies bemerkt hat­te und ver­ständ­nis­voll darüber hin­weg­sah.

Viele Jahre später lernte ich im Militär ein menschenverachtendes Vokabular kennen. Unser Küchenchef verkündete, es hätte für Hungrige noch «gestampfte Juden». Ich hörte diesen antisemitischen Begriff für Dosen-Fleischkäse zu ersten Mal und war entsetzt. Ein mutiger Kamerad beschwerte sich beim Kompaniekommandanten darüber, was zur Folge hatte, dass er von diesem selbst schlecht behandelt wurde. Nun kam ich an die Gren­zen mei­ner To­le­ranz.


Ohrfeigen und Nierenschläge

Heute kann ich zwar die Ohnmacht und Verzweiflung der Lehrer verstehen, welche uns körperlich disziplinierten, denn in unserer Schu­le gab es viele Probleme … allerdings fehlt mir das Verständnis für die unsägliche Gewalt, welche von ihnen ausgeübt wurde. In der Sekundarschule hatte unser Musiklehrer Heinz Krummenacher 1973 sein eigenes System, Ohr­fei­gen auszuteilen. Er kniff die Knaben (ausschließlich) mit seiner rechten Hand an der linken Backe, um dann unvermittelt mit großer Kraft dieselbe geöffnete Hand auf diese niedersausen zu lassen. Die Backen liefen jeweils rot an und man konnte den Abdruck seiner Hand deutlich sehen. «Dis­zi­pli­nie­ren» konnte er die Schüler dadurch nicht, das Re­sul­tat war immer Hass und Ver­ach­tung.

Das wohl grausamste Erlebnis im Zusammenhang mit Körperstrafen mussten wir im Turnen erleben. Während eines Handballspiels erlaubte sich ein Klassenkamerad, die in seinen Augen ungerechte Schiedsrichterentscheidung mit einem leisen «Arschloch» zu kommentieren. Sein Pech war, dass Herr U. Hoffmann dies hörte. Der Lehrer schäumte vor Wut: «Was fällt dir eigentlich ein?» und verprügelte den Knaben mit beiden Fäusten vor der Klasse. Mehrfach setzte er sein Knie gezielt gegen die Nieren des malträtierten Schülers ein, bis dieser wimmernd auf allen Vieren aus der Turnhalle kroch.

Mehr als der grausame Vorfall selbst, schockierte mich schon damals die Tatsache, dass in der Folge absolut nichts geschah. Kein klärendes Gespräch, keine Entschuldigung, ge­schwei­ge denn eine Be­stra­fung die­ses Leh­rers!


Photographie

Meine ersten «Photographien» machte ich mit einer selbst gebauten Loch­kamera. Die Anregung dazu hatte ich einem Bastelbuch aus der Schulbibliothek entnommen (damals fotografierte man noch mit ph). Für das Entwickler– und Fixierbad reichte mein Taschengeld gerade noch, doch dann musste ich improvisieren. Zum Zwischenwässern benutzte ich das Katzenklo (wir hatten in­zwi­schen ei­nen Hund) und das Wäs­sern fand in der Wasch­kü­che statt.


Rollei B35

Schnell wuchs der Wunsch nach einer richtigen Kamera, aber ich musste bis Weihnachten 1973 warten. Meine ersten Bilder mit dieser Klein­bild­ka­me­ra waren noch in Farbe. Die Negativfilme waren zwar erschwinglich, doch die Abzüge im Fotolabor überstiegen schnell meine Möglichkeiten. So wechselte ich zurück zur Schwarzweißfotografie und war gezwungen, meine Negative selbst zu vergrößern. Da lauerte schon die nächste Hürde: wie komme ich an ein Vergrößerungsgerät? Wiederum griff ich auf Rudolf Wollmanns «Werkbuch für Jungen» zurück und baute mir selbst so ein Ge­rät aus Sperr­holz und ei­nem an­ti­qua­ri­schen Ob­jek­tiv.

1974 trafen wir vor dem Schulhaus auf ein Kamera-Team des Büro Cortesi, welches im Auftrag des Schweizer-Fernsehens Interviews über die Freizeitgestaltung der Jugendlichen drehte. Bei meinen Kameraden standen nebst den Mädchen nur die Mofas und Spielsalons im Vordergrund. Als Leseratte erwähnte ich meine Bibliotheksbesuche und meine Hobbys. Ich sah mir die Ausstrahlung des Beitrags bei meiner Großmutter an (bei uns zu Hause war das Fernsehen tabu). Meine Antworten kamen ganz am Ende und ich wurde als Aus­nahme der sonst ver­dor­be­nen Ju­gend dar­ge­stellt.

Mir war das Ganze peinlich, denn ich wollte auf keinen Fall als Mu­ster­kna­be herausstechen, schließlich hatte auch ich ein fri­sier­tes Mo­fa und hör­te am lieb­sten Deep Pur­ple und Uriah Heep!

Bei der Berufswahl schwankte ich lange zwischen Photograph und Lehrer, ich entschied mich für das Lehrerseminar. Dort verhalfen mir meine Kenntnisse in der Fotografie zu einer gu­ten Pa­tent­ar­beit über den «Stän­der­bau im See­land».


Jugendliche Subkultur

Als Lehrersohn war ich verwöhnt, was kulturelle Bildung angeht. Schon mit fünf Jahren erhielt ich von Vater eine Geige, er unterrichtete mich und hielt mich zum Üben an. Obwohl ich bereits recht gut spielte, begann ich in der Pubertät das Instrument abzulehnen. Mein Vater setzte mir ein Ultimatum, um herauszufinden, welches Instrument ich denn spielen wollte. Dass mich auch andere Dinge interessieren könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Also begann ich, eher unter Zwang, Querflöte zu erlernen. Es war zu dieser Zeit, als ich bei einem älteren Nachbarsjungen «Oye cómo va» von Carlos Santana zu hören bekam. Diese Musik war für mich eine Erleuchtung. Mit aufgesetzten Kopfhörern begann ich zu die­sem und an­de­ren Songs zu im­pro­vi­sie­ren.

Später, im Lehrerseminar, erhielt ich die Möglichkeit, als Quartier-Bademeister etwas Geld zu verdienen. Der erste Lohn floss 1977 in einen portablen, knallgelben Fernseher aus Ungarn, der zweite in einen japanischen Telecaster-Nachbau. Ein Verstärker war für mich unerschwinglich, also lötete ich mir selbst einen zusammen. Ein Putz­eimer aus Kunst­stoff muss­te als Ge­häu­se her­hal­ten.


Am

Nach meinen ersten Spielversuchen mit der elektrischen Gitarre, trat mein Vater ins Zimmer und meinte: «Naja, die jugendliche Subkultur, früher oder später kommst du auf den rechten Pfad zurück …». Er konnte nicht ahnen, dass mir dieses Instrument ein Lehrerleben lang zum treu­en Be­glei­ter wer­den wür­de.

Später gründeten wir eine Band und traten mit selbst komponierten Songs auf. Immer auf der Suche nach dem perfekten Sound, baute ich mir ein Overdrive-Effektgerät, einen Verzerrer. Ich konnte sogar einige Exemplare davon bekannten Gitarristen verkaufen. Ich erfuhr, dass Tommy Kiefer, Gitarrist von «Kro­kus» meinen Verzerrer für die Aufnahmen der LP «Me­tal Ren­dez-Vous» ein­ge­setzt hat­te.

Jahre später erhielt ich die Gelegenheit, Carlos Santana live zu erleben, 1991 sogar in México. Die Gitarre hat mir viele Türen geöffnet, sie wurde jeweils zum «Eis­bre­cher», so­bald ich eine neue Klas­se er­hielt.


Ostkontakte

Während meiner Zeit am Leh­rer­se­mi­nar Biel mussten wir öfters schriftliche Arbeiten einreichen. In den 70ern bedeutete dies viel Recherche in den Bibliotheken und nach Möglichkeit auch die Suche nach weiteren Quellen. 1977 hatte sich ein Klassenkamerad das «Thema Kornkammer der UdSSR» (Uk­ra­ine) aus­ge­sucht. Inmitten des Kal­ten Krie­ges war es nicht gerade einfach, an geeignete Quellen zu gelangen. Also telefonierte der Seminarist Ruedi Winistörfer mit der sow­je­ti­schen Bot­schaft in Bern und fragte nach Statistiken und Landkarten. Seine Ansprechpartner waren ausgesprochen wohlwollend und schickten ihm einen ganzen Karton mit Karten, Fotobüchern, Dokumentationen und Statistiken an seine Wohnadresse. So ausgerüstet konnte er eine be­son­ders gu­te Geo­gra­fie-Ar­beit ein­reichen.

Etwa einen Monat später klopfte jemand während des Methodikunterrichts an unsere Türe. Es war die Sekretärin, sie fragte nach Ruedi Winistörfer und bat ihn in das Büro des Rektors. Wir maßen dem keine besondere Bedeutung zu und vermuteten, dass es sich um irgendeine bü­ro­kra­ti­sche Klei­nig­keit han­deln durf­te.

Das änderte sich, als uns Ruedi – zurückgekehrt vom Rektor – vom Gespräch mit diesem berichtete: Ob er es wirklich ernst meine, mit dem Beruf des Lehrers. Seine Ostkontakte würden deutlich dagegensprechen. Bei einem weiteren Vorfall wäre die Er­lan­gung des Lehr­patents in Frage ge­stellt.

Der Vorfall ließ nur eine Deutung zu: da die Telefonleitungen der Sowjetbotschaft wohl abgehört wurden, hatte der Nachrichtendienst unseren Rektor Heinz Wyss aufgefordert, ein Auge auf Ruedi zu werfen! Jahre später erfuhr ich, dass zu dieser Zeit jener Rektor selbst Mit­ar­bei­ter des mi­li­tä­ri­schen Nach­rich­ten­diens­tes war …


Nicht rot werten!

Als ich 1978 das Lehrpatent erhielt, herrschte großer Leh­rerüber­schuss. Von unserer 24-köpfigen Seminarklasse erlangten gerade einmal vier Jungpädagogen eine Stelle. Ich gehörte nicht dazu und schlug mich während zwei Jahren mit Stellvertretungen durch. Wir nannten diese Lückenbüßerei scherzhaft «Religion und Weit­sprung».

Mein erster Einsatz dauerte gerade einmal drei Schultage. Ich durfte meinen Taufpaten Ernst Büh­ler während seines Zivilschutzdienstes vertreten. Für seine Neuntklässler war wohl mein Einsatz eine Art Revolution: Herr Bühler, Oberlehrer, konservativer und autoritärer Anthroposophe wurde durch einen Gitarre spielenden Jungspund vertreten. Erstaunlicherweise haben die Schüler dieses Machtgefälle nicht ausgenutzt, vermutlich war die Dauer meines Einsatzes zu kurz dazu.

Am Ende meiner Vertretung fand ich im Briefkasten einen mit Pat­schu­li parfümierten Brief. Auf dem Umschlag stand in roter Farbe «nicht rot werten!». Der Inhalt war ein erotischer Höhenflug eines pubertierenden Mädchens dieser Klasse. Es hatte seinen Namen durch Buchstabenverschiebung chiffriert, wohl um zu vermeiden, dass Uneingeweihte Rückschlüsse auf die Urheberin ziehen konnten (die Buchstabenverschiebung war Teil einer Ma­the­ma­tik­auf­ga­be aus mei­nem Un­ter­richt ge­we­sen).

Ein paar Tage später begegnete mir Beatrice Flückiger auf der Straße. Sie fragte mich, ob ich Post erhalten hätte. Dabei zitterte sie und errötete im ganzen Gesicht. «Trixle» war ausgesprochen hübsch und sympathisch und ich wollte ihr eine Verletzung durch meine Rückweisung ersparen. Ich sagte ihr, dass mich ihr Brief sehr gefreut habe, dass ich sie gut möge, aber dass sie sich besser jemand in ihrem Alter suchen würde. Ihr kleiner orthographischer Missgriff bringt mich heute noch zum Schmun­zeln.


Remy Martin mit Nazi

1979 unternahm ich zusammen mit meinem Seminarkollegen Hans-Peter Wymann meine erste Flugreise. Sie führte uns in einer DC10 der schweizerischen Balair in knapp 5 Stunden nach Tenerife. Während mein Kollege noch kein Permis besaß, war ich bereits stolzer Inhaber eines Motorradausweises der Kategorie A1 (125cm²). Somit konnten wir mit einem gemieteten Suzuki RV125 die Insel erkunden. Be­son­ders fas­zi­nier­te uns der Te­ide mit sei­nem Rie­sen­kra­ter.

Auch kulinarisch betraten wir Neuland. Ich aß zum ersten Mal den damals in der Schweiz noch kaum unbekannte Aguacate (Avocado). In Hans-Peters Reiseführer wurde ein Fisch-Restaurant im alten Hafen von Puerto de la Cruz besonders empfohlen. Da wir uns tagsüber meist sehr bescheiden verpflegten, beschlossen wir, uns diesen kleinen Luxus zu gönnen. Das Essen schmeckte ausgezeichnet und als wir beim Kaffee die bevorstehenden Ausflüge besprachen, standen plötzlich zwei Cognacs auf unserem Tisch. Der Kellner fragte höflich, ob wir uns an den Tisch eines älteren Herrn setzen würden, er hätte uns den Remy Martin gespendet. Die­ser hat­te beim Zu­hö­ren be­merkt, dass wir deutsch spra­chen.

Er stellte sich vor und begann uns von seinem Leben zu erzählen. Er wäre schon kurz nach dem Krieg nach Tenerife gezogen und er kenne auch Festland-Spanien. Wie so oft bei Deutschen dieser Generation, klaffte auch bei ihm eine Lücke beim Zweiten Weltkrieg. Wir fragten also nach und wurden blass bei seiner Antwort. Er sei als Flugingenieur der deutschen Luftwaffe in der Legion Condor tätig gewesen. In unseren Köpfen tauchte sofort Pablo Picassos Guernica auf und das herr­li­che Fisch­ge­richt lag uns schwer im Ma­gen…

Nur aus Höflichkeit bedankten wir uns für den Cognac und verließen das Lokal. Wie hätten wir anders reagieren sollen? Der Abend war wie eine verhexte Zeitreise, denn auf dem Weg zum Hotel sahen wir das Straßenschild «Avenida del Generalísimo Franco» und auf einer Peseten-Münze war deutlich «Franciso Franco, Caudillo de España, por la gracia de Dios» (… Führer Spaniens von Gottes Gnaden) zu le­sen und dies 39, resp. 4 Jah­re nach dem Tod die­ser Ver­bre­cher!


Computer in der Schule!


Sinclair ZX81

1982 unterrichtete ich in Jens, einer kleinen Gemeinde im Berner Seeland, eine Mischklasse 6. – 9. Schuljahr. Die zwölf Schüler begeisterten sich für alles, was Technik und Science-Fiction betraf. Zu dieser Zeit beschäftigte ich mich privat viel mit Elektronik und bekam vom Electronic-Shop in Biel das Angebot, einen Per­so­nal Com­pu­ter während eines Monats kostenfrei auf seine Tauglichkeit für das Sortiment zu prüfen. Der Geschäftsinhaber hatte genau den richtigen Kunden dafür ausgesucht. Ich schloss den Sin­clair ZX81 an Fernseher und Kassettenrecorder an, und machte mich gleich an die Lektüre des englischen Handbuchs «ZX81 Ba­sic Pro­gram­ming». Mein Bett blieb die­se Nacht un­be­nutzt  …

Nach einigen Wochen hatte ich meine ersten Programme so weit, dass ich sie den Schülern vorführen konnte. Es handelte sich um ein Mas­ter­mind und ein Zahlenraten. Also packte ich Computer und Kabel zusammen und machte mich auf den Weg nach Jens. Die Schüler waren fasziniert. Jeder wollte einmal dieses Wundergerät bedienen, wel­ches die mei­sten Men­schen nur aus dem Fern­se­hen kann­ten.

Ich hatte nicht mit der Reaktion des Schulleiters gerechnet: «Schön, dass du ein Hobby hast, aber Computer in der Schule – das geht gar nicht!». Ich nehme an, dass in seiner Vorstellung einzig Or­wells 1984 eine Rolle spielte. Dass sich da eine Revolution anbahnte, konnten wohl nur jene erahnen, die sich selbst mit Computern beschäftigten. Doch offensichtlich war der Schulleiter in dieser Hinsicht sehr lernfähig, denn bereits ein Jahr später fuhren wir zusammen an die World­di­dac 83 nach Basel, wo viele Computerfirmen konkurrierend versuchten, den Schulen ihre Ware zu verkaufen.

Die 80er waren die Pionierzeit in der Schul­in­for­ma­tik. Gestaunt habe ich dann, als ich noch zwanzig Jahre später (Win­dows XP) Gegenwind in der Leh­rer­kon­fe­renz bekam, weil ich dank sin­ken­der Com­pu­ter­prei­se, statt der bud­ge­tier­ten 13 für den gleichen Preis 14 Computer für un­se­re Schu­le an­schaf­fen wollte. Zum Glück ist diese sture Lehrkraft dann bei der Ab­stim­mung un­ter­le­gen.

Obwohl seit einiger Zeit alle Lernenden mit ihrem persönlichen Notebook zum Unterricht kommen, ist die Bildung nicht besser geworden. Gelitten hat hingegen bei allen die Be­herr­schung und Qua­li­tät der Hand­schrift.


Authentisches Kind

Ebenfalls in Jens kam es 1982 zu einem großen Gelächter, als uns die Kollegin der Unterstufe von einem El­tern­ge­spräch be­rich­te­te, dass sie g­era­de mit ei­ner Mut­ter fü­hren durf­te.

Diese Mutter des Zweitklässlers war sehr besorgt und erzählte der Lehrerin, dass ihr Sohn ein «authentisches Kind» sei. Sie erkundigte sich, ob die Schule auf solche Kinder auch genügend Rücksicht nehmen würde.

Die Lehrerin meinte, sie hätte es gerade noch geschafft, ein «Zum Glück ist er authentisch» zu unterdrücken. Natürlich erhielt die besorgte, im Umgang mit Fremdwörtern ungeübte Mutter eine professionelle Antwort: «Wir können ihren Sohn gerne bei der Er­zieh­ungs­be­ra­tung in Bern abklären lassen.»

Damals erschienen ver­mehrt auch in Frau­en-Zeit­schrif­ten Ar­ti­kel über Au­tis­mus. Die Angst, dass es das eigene Kind nicht in die Sekundarschule schafft, trieb seltsame Blüten.


Gelebte Integration

Lange, bevor In­te­gra­tion zum Politikum wurde, lernte ich 1984 in Wal­pers­wil den Schüler Frank kennen. Frank besuchte als Spa­sti­ker die Oberstufe in diesem 700-Seelen-Dorf. Ich hatte als Junglehrer keine Erfahrung mit behinderten Schülern und tastete mich behutsam an dieses Thema heran. Von der In­va­li­den­ver­si­che­rung hatte Frank eine Schreib­ma­schi­ne mit einem speziellen Führungsraster für seine Finger erhalten. Zudem besaß er ein spezielles Dreirad für Schulweg und Freizeit. Ich unterrichtete Mathematik im Teilpensum an seiner Klasse und ich wollte die Win­kel­hal­bie­ren­de einführen. Schließlich halfen mir seine Mitschüler: «Verwenden Sie doch einen Kartonstreifen mit Löchern als Zirkel!». Exemplarischer kann man Integration wohl nicht erleben.

Doch, kann man! Auf der drei­tä­gi­gen Schul­reise in Grau­bünden stand uns eine zweistündige Wanderung über einen steilen Pfad auf eine Alp bevor. Ich besprach mich mit Franks Klassenlehrer und wir entschieden, dass einer von uns Frank auf der Post­au­to­fahrt begleiten würde, während die Klasse den Weg unter die Füße nahm. Wir eröffneten der Klasse unseren Entscheid, doch statt der erwarteten Zustimmung bekamen wir ein «Kommt nicht infrage!» zu hören. «Frank kommt mit uns!»

Die Knaben wechselten sich ab und schleppten Frank abwechseln im Samaritersitz auf die Alp. Die Träger kamen schweißgebadet und erschöpft auf der Alp an und meinten stolz: «Fränku gehört zu uns!». Daran hatte ich keine Zweifel mehr …


Kalter Krieg in Bern

Es war im Frühjahr 1985 und ich wartete in einem Straßencafé am Bä­ren­platz in Bern auf die Übersetzung und Beglaubigung meiner Schulzeugnisse zwecks Erlangung eines mexikanischen Arbeitsvisums. Die Zeugniskopien hatte ich kurz vorher bei einer Notarin abgegeben. Um die Zeit totzuschlagen, bestellte ich einen Kaffee und ein Croissant und ver­tief­te mich in die Lek­tü­re ei­ner Zei­tung.

Nach einer Weile nahm ich zwei slawisch klingende Stimmen in der vorderen Tischreihe wahr. Es handelte sich wohl nicht um ein Liebespaar, doch die Frau sprach sehr intensiv mit dem Mann, der mir den Rücken zu­kehr­te.

Auf einmal hörte ich rechts von mir das Rascheln einer Zeitung. Mein Tischnachbar hatte sich von mir unbemerkt hingesetzt und ebenfalls einen Kaffee bestellt. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie dieser eine Mi­nox-Ka­me­ra aus der Ja­cken­ta­sche zog und im Zei­tungs­falz plat­zier­te.


Minox 8×11

Etwas danach ritzte er einen Schlitz in den Falz und zentrierte die kleine silberne Kamera dahinter. Das Klicken des Auslösers war wegen des Grundlärmpegels der Stadt kaum wahrnehmbar. Ich hörte es dank meiner Nähe zum Nach­bar­tisch den­noch und dreh­te mich un­ver­mit­telt nach rechts.

Der Minox-Mann bemerkte, dass ich ihn beobachtet hatte. Er sah mich direkt an, deutete mit dem Zeigefinger auf seine Lippen und bat mich so, mir nichts anmerken zu lassen. Die Kamera verschwand wieder in seiner Jackentasche, er legte das Kleingeld für den Kaffee auf den Tisch und entfernte sich diskret. Ich war mir sicher: ich hatte soeben eine ver­deckte Ob­ser­va­tion ei­nes Ge­heim­diens­tes be­ob­ach­tet.


Colegio Suizo de México

Koscherer Käse aus Mexiko

In México, kurz nach dem großen Erd­be­ben vom 19. September 1985, war ich an den Vorbereitungen meines ersten mexikanischen Campamento (Landschulwoche). Ich rekognoszierte das Ran­cho Aleg­re bei San Juan del Río, welches vom Schweizer Walter Schumacher geführt wurde. Dort, in unmittelbarer Nähe einer thermalen Mineralwasserquelle, sollten dann im April 1986 unsere Zelte stehen. Stolz zeigte mir Walter Schu­ma­cher seine rie­si­ge Ranch.

Beim Betreten der Käserei trafen wir auf einen traditionell jüdisch gekleideten Mann. Es stellte sich heraus, dass dieser Rab­bi­ner aus México D.F. hergefahren war, um die Käserei für die Zertifizierung von koscherem Käse zu begutachten. Neugierig, wie ich bin, befragte ich den sehr gesprächigen Rabbiner zu den speziellen jü­di­schen Kä­se­vor­schrif­ten. Er erklärte mir, dass man kein Lab aus Kälbermägen verwenden dürfe und dass das hier ver­wen­dete Lab aus Kräu­tern ge­won­nen wer­de.

Das Lager wurde trotz einer frostigen Nacht zu einem vollen Erfolg. Die ganze 5. Klasse genoss das Bad im 30 Grad warmen, chlorfreien Mineral­wasser im In­nen­hof der Ranch.

Da sich unmittelbar neben unseren Zelten die Fassung einer Ar­te­si­schen Quel­le befand, konnten wir auf Spülmittel für den Abwasch verzichten. Der Wasserdruck war so groß, dass das Geschirr auch ohne blitzblank wurde. Das Geräusch des Quellwassers, das gute fünf Meter weit spritzend in einem Bewässerungskanal der Ranch landete, be­glei­te­te uns wäh­rend der gan­zen Wo­che.


Heizstrahler und PC

Für das Schuljahr 1986 wurde mir bei der Stundenplanung der Informatik-Unterricht der 1. Sekundarklasse zugewiesen. In dem spärlichen Gepäck, das ich mit dem Botschafts-Container nach México schiffen konnte, befand sich zwar meine lang vermisste Ova­tion-Gitarre, aber leider kein Computer. Das Co­le­gio Sui­zo de Mé­xi­co hatte bereits damals einen Computerraum mit 16 Original IBM PCs. Doch dieser Raum war voll ausgelastet, sodass ich nur an den Wochenenden Gelegenheit hatte, mich auf das bevorstehende Schuljahr vorzubereiten. Meine ZX81- und Spectrum-Kenntnisse halfen mir zwar, dennoch wollte ich mir keine Blöße geben und gut mit dem IBM PC vertraut werden. Also fuhr ich jeweils am Wo­chen­en­de in die Schu­le, setz­te mich al­lein an ei­nen PC und lern­te.

Mir war nicht bewusst, dass es im Winter in México-City bitterlich kalt werden kann und dass es da im Gegensatz zu den Häusern in der Schweiz keinerlei Heizung gab. México war damals wirtschaftlich abgeschottet wie ein Ostblockland und Personal-Computer ko­ste­ten mehr als 8000 Schwei­zer­fran­ken. Also entschied ich mich zuerst für einen blechernen Heiz­strah­ler der Marke «Gradiente», Hecho en México. Solange das Gerät nahe bei meinen Füßen stand, konn­te ich so ein paar Stun­den ar­bei­ten und ler­nen.

Als ich endlich meinen mexikanischen Volkswagen «Caribe» (VW Golf 2) abgestottert hatte, konnte ich die Anschaffung eines eigenen PCs planen. Im Warenhaus Sears fand ich einen IBM PC-kompatiblen Nachbau der Marke Te­le­Vi­deo für 2700 Dollar (≙ CHF 6210!). Das Gerät hatte einen mono­chromen 12"-Bild­schirm, 128k RAM und zwei 5¼" Dis­ket­ten­lauf­wer­ke mit je 360KB Speicherkapazität. Nun konnte ich mir die Wo­chen­end­fahr­ten durch die Megastadt ins kal­te Schul­haus er­spa­ren und be­quem zu Hause pro­gram­mie­ren.

Durch einen Kollegen kam ich zu Programmiersprache Tur­bo Pas­cal, welche mir die Pro­gram­mie­rung einer eigenen, mehr­spra­chi­gen Text­ver­ar­bei­tung und Ta­bel­len­kal­ku­la­tion er­möglichte.


Wir sind doch alle Brüder

1987, während der ersten Lektion mit meiner neuen 3. Klasse am Co­le­gio Sui­zo de Mé­xi­co, versuchte ich auf eine spielerische Art, die Kinder kennenzulernen. Dabei sollten die Schüler sich gegenseitig vorstellen. Durch die Fa­mi­lien­na­men war es of­fen­sicht­lich, dass die­se un­ter­schied­lich­ste Her­künf­te hat­ten (Mé­xi­co, Schweiz, Deutsch­land, Öster­reich, Un­garn, Ar­me­nien). Ich fragte jeweils nach und lag manchmal mit meinen Mutmaßungen über die geo­gra­phi­sche Herkunft völlig falsch, was die Klasse zum Lachen brachte. Als Pädagoge hatte ich natürlich ein Ziel: ich wollte dem latenten Ras­sis­mus, wel­cher in Mé­xi­co nach wie vor herrscht, et­was ent­ge­gen­set­zen.

Kurz vor Ende dieser Unterrichtsstunde meldete sich ein aufgeweckter Schüler zu Wort: «Schön und gut, aber das bringt uns nicht weiter, wir sind doch alle Brü­der!». Ich war sprach­los und be­geis­tert von der neu­en Klas­se.


Die Nichte des Präsidenten

Den Namen «Car­los Sa­li­nas de Gor­ta­ri» hörte ich zum ersten Mal 1987, ein Jahr vor seiner Wahl anlässlich einer Sa­ba­ti­na (privates Klassen­fest an einem Sams­tag). Der Vater einer meiner Schülerinnen, In­du­striel­ler und en­ger Freund des zu­künf­ti­gen Prä­si­den­ten erwähnte ihn als Des­ta­pa­do (Voraus­be­stimm­ter).

1988, als Salinas zum Präsidenten von Mexiko «ge­wählt» wurde, stieß ausgerechnet eine seiner Nichten zu meiner Klasse (die Kinder des Präsidenten besuchten dagegen die ja­pa­ni­sche Schu­le).

Mónica hatte es nicht einfach zu Hause, ihre Mutter widmete sich dem Sozialleben, während der Vater seinen Geschäften nachging. Ihre Erziehung wurde an die «Chacha» (Dienstmädchen) und unsere teure Privatschule delegiert. Auffallend waren ihre vielen, scheinbar ungeplanten Abwesenheiten. Kurzfristig wurden diese jeweils vorher (mit absichtlich falschen Zeitangaben) angekündigt. Die Familie fühlte sich (nicht grund­los) ex­po­niert und be­fürch­te­te dau­ernd An­schläge und Ent­füh­run­gen.

Nach ihrer Rückkehr zum Unterricht erzählte sie mir manchmal von ihren Flügen im Präsidentenflugzeug nach San Antonio (USA). Dort verbrachten sie jeweils einige Tage auf der Bush-Ranch. So erfuhr ich, dass der Präsident Gitarre spielte, oft sein Lieblingslied «Nowhere Man» von den Beatles.

Mónica hatte einen Gua­ru­ra (bewaffneter Leib­wächter), der auch während des Unterrichts vor der Schule Wache stand. Das hatte auch seine Vorteile, besonders auf Klassen-Ausflügen, denn da erhielten wir zusätzlich Geleitschutz durch einen unscheinbaren, dunklen Dodge Dart mit schwer bewaffneten Präsidialgardisten (sie haben mir ihre Bewaffnung sogar vorgeführt). Deshalb konnten wir einmal selbst zur Stoßzeit, den für normal Sterbliche gesperrten Periférico mit dem Schulbus benutzen, um das Technikmuseum zu besuchen. Einer der kahl rasierten Agenten erklärte mir, dass er uns den Rü­cken frei­hal­ten wür­de und si­cher­te mit sei­ner Pi­sto­le un­ter dem T-Shirt un­se­ren Mu­seums­be­such.

Obwohl es Carlos Salinas de Gortari durch radikale Maß­nah­men schaff­te, die Inflation zu bändigen, verblieb ein zwie­späl­ti­ger Ein­druck seiner Familie. Die Rede war von kriminellen und mafiösen Ge­schäf­ten (u.a. Geld­wä­sche).


Fünf Prozent Becados

Wie alle Privatschulen in Mexiko, war auch die Schweizerschule verpflichtet, fünf Prozent sogenannte «Be­ca­dos» (Stipendiaten) aufzunehmen. Die Auswahl erfolgte aber nicht wie vorgesehen nach Bedürftigkeit der Kinder, sondern nach dem Prinzip der «Pa­lan­ca» (Hebel, Brechstange). Zu solchen Hebeln kam es durch Gefälligkeiten oder Seilschaften mit Behördenmitgliedern. Ich würde den Vorgang als Korruption bezeichnen, in Mexiko nannte man dies Zu­gäng­lich­keit oder Of­fen­heit für gu­te Lö­sun­gen.

Für die begünstigten Schüler waren diese Be­cas eine Chance, aber oft auch eine schwere Last. Meist aus bildungsfernen Familien der Unterschicht, wurden sie mit einer sehr materialistischen Klasse konfrontiert, mit der sie nicht zurechtkamen. Die Lehrerschaft erfuhr nie offiziell, wer zu den Becados gehörte, aber ihre kulturellen Unterschiede waren zu offen­sicht­lich, um das gut ge­mein­te Ge­heim­nis wah­ren zu kön­nen.

Während die Kinder der mehrheitlich gut betuchten Eltern ab 14 Jahren mit ihrem eigenen Wagen zur Schule kamen, wenn sie nicht vom Chauffeur aus Vaters Unternehmen oder der Mutter hingefahren wurden, erreichten uns die Becados per Metro oder zu Fuß. Nach dem Unterricht fuhren die Kinder der Reichen in ihre exklusiven Clubs, um Sport zu treiben, während die Becados als fliegende Straßenhändler ihre Fa­mi­lien un­ter­stüt­zen muss­ten.

Nebst den materiellen stachen auch die kulturellen und so­zio­lin­guis­ti­schen Unterschiede hervor. Virtuos imitierten die Mexikaner die jeweils anderen in Sprache und Gestik. Gemeinsam war ihnen nur der nationale Stolz, die Un­ab­hän­gig­keit. Die inbrünstig gesungene Na­tio­nal­hym­ne mit Fah­nen­gruß zu je­dem Wo­chen­be­ginn im Schul­hof be­rühr­te mich auf be­son­de­re Wei­se.

1988, in einer Pause, konnte ich das ungläubige Gesicht eines Becados beobachten, als ein Klassenkamerad seine Visa Gold Card schwenkend in die Runde fragte, wer ihn am Wochenende nach Aca­pul­co begleiten möchte, die Villa seines Onkels sei gerade nicht belegt. Die Bewohner des Ped­re­gals flogen oft zum Shopping nach Miami oder Dallas, während die fünf Prozent nicht wussten, ob sie am nächsten Tag genug zu essen hatten. Die Schweizerschüler bildeten ebenfalls eine Minderheit. Ihre Eltern waren meist bei Schweizer-Großunternehmen (La Roche, Sul­zer, UBS, Nést­lé) angestellt und nahmen deshalb auto­ma­tisch am Le­ben der pri­vi­le­gier­ten Ober­schicht teil.

Die gesellschaftlichen Schichten waren beinahe undurchdringlich. Der Austausch war im Alltag auf den Umgang mit dem Dienstpersonal beschränkt, aber in der Schule prallten die zwei Welten aufeinander. Einige Schweizerfamilien hatten Mühe, sich den von ihnen erwarteten Lebensstil zu leisten. Es gab spezielle Fonds, die ihnen dabei halfen. Europäisch aus­sehend ge­hör­te man au­to­ma­tisch zur Ober­schicht – eine Art in­ver­ser Ras­sis­mus.

Die wohl verletzendste Beleidigung im Alltag war «¡pin­che naco!» (Scheiß-Indianer), es gab aber auch subtilere Varianten wie «igualado» (ver­meint­lich An­ge­gli­che­ner). An den Folgen dieser gesellschaftlichen Spaltung leidet das Land noch immer: Kri­mi­na­li­tät, Kor­rup­tion, Macht der Dro­gen­kar­tel­le …

Auch der Sohn eines bekannten Drogenbosses besuchte unsere Schule. Während die meisten Eltern ihre Colegiatura (monatliches Schulgeld) per Scheck beglichen, blätterte dieser seine Scheine jeweils aus einem mit einem Gummiband gesicherten Bündel auf den Tresen des Schulsekretariats. Das Schulgeld ent­sprach et­wa dem fünf­fa­chen Mi­ni­mal­lohn ei­nes Ar­bei­ters!

Trotz all dieser widrigen Umstände erlebte ich die Menschen in Mexiko als sehr liebenswert und gastfreundlich. Besonders auf­fal­lend war die Mensch­lich­keit bei der ar­men, länd­li­chen Be­völ­ke­rung.


Video-Piraten

Meine ehemaligen Sechstklässler besuchten 1988 die Secundaria des Co­le­gio Sui­zo de Mé­xi­co. Eines Morgens kam es während der zweiten Pause zu einem Tumult beim bewachten Eingangsportal der Schule. Da stand ein Umzugs-Lastwagen und der Hauswart schleppte mit ein paar Män­nern den Haus­rat seiner Fa­mi­lie durch das Por­tal.

Im Lehrerzimmer erfuhr ich dann, was geschehen war. Einer meiner ehemaligen Schüler hatte zusammen mit dem Haus­wart einen florierenden Vi­deo­kas­set­ten-Han­del aufgezogen. Der Hauswart kopierte in seiner Wohnung innerhalb des Schulgeländes die Sex-Videos (wohl vom Schwarzmarkt im Cen­tro His­tó­ri­co), welche er dann zusammen mit dem Schüler an interessierte Schulväter verhökerte. Vermutlich war das die Schwach­stelle, denn die Kassetten wa­ren als harm­lo­se Disney-Fil­me ge­tarnt.

Der Schüler durfte die Schule per sofort nicht mehr betreten und der Hauswart verlor seine Stelle. Für letzteren waren die Folgen dramatisch, verlor er doch sein sicheres, für mexikanische Verhältnisse anständiges Einkommen. Der Schüler S. B., Sohn einer reichen Ein­wan­de­rer­fa­mi­lie, wech­sel­te ein­fach auf die nächs­te teu­re Pri­vat­schule.


Liebfraumilch und Beethoven

Kurz nach meinem 32. Geburtstag meldete sich ein Mädchen nach der Deutschstunde bei mir und meinte traurig: «Ich glaube, meine Eltern werden sich scheiden lassen.». Ich fragte behutsam, wie sie auf diese Idee gekommen sei. Sie meinte, ihre Eltern hätten sich nach dem No­ti­cie­ro (Tagesschau) lange angesehen und dann zu weinen begonnen. Sie verstehe aber nicht, warum sie danach Sekt getrunken hätten. Das unschuldige und verständnislose Gesicht von Stephanie Ubrig werde ich nie vergessen. Ihre Eltern waren aus Deutschland und das ungewohnte Verhalten war leicht zu erklären: Am 9. No­vem­ber 1989 war in Berlin die Mauer gefallen.

Ich erklärte Steffi die Ursache der Tränen, beruhigte sie und meinte, sie solle sich den 9. November gut merken, ihre Kin­der wür­den die­ses Da­tum spä­ter in den Ge­schichts­bü­chern fin­den.

Im Oktober 1990 lud dann die Botschaft der BRD alle Deutschsprechenden (!) an das Wiedervereinigungsfest im Goe­the-In­sti­tut ein. Es gab eine Videoprojektion des Mauerfalls, Reden, Beethovens 9. Symphonie, Canapés und Lieb­frau­milch. Kurz darauf wurden die Bibliotheken beider deutschen Kultur-Institute zu­sam­men­ge­legt und ich erhielt die Ge­le­gen­heit, den Có­di­ce Ma­ya de Mé­xi­co in der Hand zu hal­ten!

Obwohl (oder weil) der eiserne Vorhang zerfiel, fand noch im selben Jahr im Einkaufszentrum Pla­za Inn eine Kulturausstellung der Sow­jet­union statt. Dort kaufte ich mir ein Exemplar des Jugendmagazins Sput­nik und staun­te über die Pro­pa­gan­da­spra­che, die ich bis da­hin nur aus dem Kurz­wel­len­sen­der Ra­dio Mos­kau kann­te.


Nürnbergs Sound

1991 jährte sich der Rütlischwur zum 700. Mal. Auch in der Schweizerkolonie von Mexiko-Stadt sollte dieser Anlass angemessen gefeiert werden. Am Co­le­gio Sui­zo de Mé­xi­co wurde ich dem OK zugeteilt und war für die Be­schal­lung und Not­strom-Ener­gie­ver­sor­gung ver­ant­wort­lich.

In dieser Vor-Internet-Zeit nutzte ich die Sec­ción Ama­ri­lla des riesigen lokalen Telefonbuchs und suchte nach geeigneten Unternehmen. Schließlich wurde ich fündig: Electroingeniería de Precisión S.A. konnte die Beschallung bewerkstelligen. Auf niedrigen Kindergartenstühlen setzte ich mich mit Ingeniero Otto Sartorius zusammen und wir planten die Beschallung des riesigen Ge­lä­ndes der Schu­le und des be­nach­bar­ten Schwei­zer-Klubs.

Dabei stellte sich heraus, dass Herr Sartorius fließend Deutsch sprach und natürlich fragte ich nach seiner Biographie. Die Sitzung verlängerte sich dadurch entscheidend, denn seine Erzählung begann bei seiner Lehre bei Te­le­fun­ken in Nürnberg. Er schwärmte vom Beschallungssystem, welches auf dem Zep­pe­lin­feld bei den Reichs­par­tei­ta­gen der NSDAP zum Einsatz kam: Von den Verzögerungsleitungen, welche die Laufzeiten bei der Beschallung ausglichen, von den Kondensatormikrophonen, Lei­stungs­ver­stär­kern und Rund­strahl-Pilz­laut­spre­chern.


Telefunken

Er meinte noch trocken, die Beschallung von Schule und Klub sei kein Problem, er würde auch Draht­los­mik­ro­pho­ne liefern und im übrigen hätte er mit den Nazis nichts am Hut gehabt.

Vor kurzem war ich in Nürnberg und habe das Zep­pe­lin­feld und Al­bert Speers Kongreßhalle besucht. War sich wohl Otto Sartorius bewusst, dass er mit seiner Arbeit damals die Propaganda von Kriegsverbrechern unterstützt hatte? Ich hatte trotz seiner großartigen Tech­nik ein schlech­tes Ge­fühl.



Schule Jegenstorf

Jan und die Spritze

Am 27. August 1996 geschah Merk­wür­di­ges. Ich befand mich mit meiner Klasse in einer Landschulwoche in Les Pon­tins sur St-Imier. Meine Frau Mari­car­men widmete sich der Küche und unseren beiden Kinder Thomas und Mariana. An diesem Dienstag unternahmen wir eine Exkursion nach La Chaux-de-Fonds. Nach der Anreise per Zug besuchten wir das lokale Uhren­museum. Danach aßen wir gegenüber des monumentalen Ca­ril­lon unsere Sandwiches und bestaunten das Kunstwerk. Anschließend erhielt die Klasse die Gelegenheit, das Städtchen auf eigene Faust zu entdecken. Ich war froh, mich während dieser zwei Stunden meiner Familie widmen zu können, denn be­son­ders mein Sohn litt un­ter dem La­ger­be­trieb.

Wir bummelten gerade an einem kleinen öffentlichen Park vorbei, als einige Schüler der Klasse gestikulierend auf uns zu kamen. Ich verstand nur, dass meine Anwesenheit dringend erforderlich war: «Jan, Kind, verletzt, HIV, Drogen, Polizei …». Jan Samuel Pfäffli, ein Knabe meiner Klasse, stand verstört zwischen zwei Polizisten und einer Frau, welche aufgeregt auf die Polizisten einsprach. Diese scheiterten beim Versuch, Jan zu befragen. Jans Französisch war gar nicht so schlecht, doch die Emotionen und das fehlende medizinische Vokabular verunmöglichten eine Kommunikation. Das Schlüsselwort war « la se­rin­gue » (die Spritze). Die Frau beschuldigte Jan in brüchigem Französisch, als Drogenkonsument unsorgfältig mit seiner Spritze umgegangen zu sein und dabei das von ihr be­treu­te Klein­kind ver­letzt und mit HIV in­fi­ziert zu ha­ben.

Ich konnte die Polizisten schließlich davon abhalten, Jan allein abzuführen und bestand auf meiner Anwesenheit während der offiziellen Befragung. Inzwischen war auch meine Familie hinzugekommen. Mein Sohn weinte, als ich in den Kastenwagen der Polizei stieg, um Jan und einen weiteren Zeugen zu begleiten. Der Posten­kom­man­dant mein­te schmun­zelnd: « Mais qu'est-ce que c'est cet­te his­toi­re, mes­sieurs!? ».

Nach meinen Auskünften und der Angabe unserer Personalien, wollte man uns auf die Straße entlassen. Ich bestand aber darauf, sofort zum Bahnhof gefahren zu werden, da unsere Klasse sonst ohne Aufsicht wäre und wir den Zug nach St-Imier verpassen würden. Also wurden wir mit Blau­licht zum Bahn­hof chauf­fiert.

Wochen später stellte sich heraus, dass es sich bei der ominösen Frau um einen bos­ni­schen Flücht­ling handelte. Sie hatte den Versuch unternommen, durch eine polizeiliche Untersuchung ihrer drohenden Abschiebung zu entgehen. Diese absurde Ge­schich­te nahm ein gutes En­de, aber:

Später erfuhr ich, dass Jan seine Ausbildung abgeschlossen hatte und für das Schwei­ze­ri­sche Tro­pen­in­sti­tut in Tansania tätig war. Dort wurde er am 29. August 2012 bei einem brutalen Über­fall auf die Mbu­yuni-Apart­ments im Stadt­teil Masaki von Dar-es-Sa­laam er­mor­det!


Mädchen oder Junge?

Es war 2001, als mich meine Kollegin Petra aus der Mittelstufe um Rat bat. Sie hatte in ihrer Klasse einen neuen Schüler, oder war es eine neue Schülerin? In der Meldung der Gemeinde stand, dass eine türkische Familie mit drei Kindern zugezogen sei. Leider war unklar, ob es sich um zwei Schwestern und einen Bruder oder um zwei Brüder und eine Schwester handelte und aus dem tür­ki­schen Na­men «Üm­mu Gül­süm» war dies für uns nicht er­kennt­lich.

Ich versprach ihr, das an­dro­gy­ne Wesen in der 10-Uhr-Pause zu beobachten. Ümmu Gülsüm bewegte sich kaum und sprach noch kein Deutsch, ich kam also so nicht weiter. Deshalb suchte ich im Internet nach einem Menschen gleichen Namens. Auf einer deutschen Seite wurde ich fündig: Es musste sich um ein Mädchen handeln. Das Thema Geschlecht ist für gläubige Muslime delikat und so war Petra sehr erleichtert über meine Rückmeldung, konnte sie doch dem Mädchen die Peinlichkeit ersparen, beim Turn­un­ter­richt in die fal­sche Gar­de­ro­be ge­schickt zu wer­den.

Der Zufall wollte, dass Ümmü Gülsüm in der Oberstufe in meine 7. Klasse kam. Am Ende der obligatorischen Schulzeit pflegte ich jeweils eine dreitägige Schul­reise ins Tes­sin durchzuführen. In dieser lockeren Atmosphäre erzählte ich ihr von den Sorgen, welche ihr uns fremder Name verursacht hatte. Sie kugelte sich vor Lachen und klärte uns auf. Ümmü und Gülsüm seien die türkischen Namen der Töchter Mo­ham­meds und ihr gläubiger Va­ter ha­be die­se spe­ziell für sie aus­ge­sucht.


Sind wir in Frankreich?

Meine Land­schul­wo­chen führ­ten uns immer in die Ro­man­die, um die Lernenden die französische Sprache erleben zu lassen. Während einer Landschulwoche 2005 in La Chaux-du-Mi­lieu (La Bré­vine) war auch eine Wanderung über die grü­ne Gren­ze nach Frankreich vorgesehen. Offensichtlich war bei der Anreise der Horizont einiger Zöglinge auf den Bildschirm ihrer Mobiltelefone begrenzt, denn bereits am Bahn­hof Le Locle kam die un­schul­di­ge Fra­ge auf: «Sind wir jetzt in Fran­kreich?»


Frankreich

Die französischen Schilder und Reklametafeln hatten das Weltbild der Deutsch­schwei­zer, welche die französische Sprache bis dahin nur aus dem Unterricht kannten, völlig erschüttert. Ich musste ihnen versprechen, sie auf der Wanderung am dritten Lagertag rechtzeitig auf die Lan­des­gren­ze hin­zu­weisen …


Unsere Größe

Seit rund zwanzig Jahren ist es an unserer Schule Usus, mit den 9. Klassen eine Exkursion in das ehemalige Konzentrationslager Natz­wei­ler-Strut­hof zu unternehmen. Ich kam auf die Idee, als durch eine Lehrer-Rochade eine ausgefallene Schulreise nachgeholt werden musste. Der damalige Schulleiter vermutete, dass mein Anliegen von der Schulkommission abgelehnt werden würde, da es sich um einen Ausflug ins Ausland handle. Zum Glück wurde mein Gesuch doch bewilligt. Es war nicht immer einfach, alle notwendigen Papiere für die Einreise nach Frankreich zu bekommen, da sich manch­mal auch Asyl­su­chen­de mit dem «Ausländer-Sta­tus N» (=ge­dul­det) in unseren Klas­sen be­fan­den.


Natzweiler-Struthof

2012, während des Besuchs der Museumsbaracke innerhalb des Lagers, stellten meine Schüler viele Fragen, was mich natürlich freute. Richtig stolz wurde ich auf sie, als sie mich auf das Verhalten eines Lehrers und seiner Gymnasialklasse aus Deutschland aufmerksam machten. Mehrere modisch gekleidete Mädchen im Alter von etwa 15 Jahren machten sich über die gestreifte Häftlingskleidung in den Vitrinen lustig: «Toll, gibt’s das auch in meiner Größe?». Meine Klasse meinte sinngemäß: «OK, diese Mädchen sind doof, aber warum re­agiert ihr Leh­rer nicht?».

Ich war von ihrer Reaktion begeistert und sagte ihnen: «Bravo 9c, mehr gibt es dazu nicht zu sagen!». Ich hatte Zweifel, ob der deutsche Kollege seine Klasse auch gründ­lich und sorg­fäl­tig auf die Ex­kur­sion vor­be­rei­tet hat­te.


Sofiia

In der Folge des rus­si­schen Über­falls kam 2022 auch Софія Антонова an unsere Schule. Sie hatte bis zum Kriegsausbruch in Kiew die Schule besucht und im Gegensatz zu den vielen anderen Geflüchteten, sprach sie schon recht gut Deutsch. Ich unterrichte an ihrer Klasse «MI» (Lehrplan 21: Medien und Informatik) und wir erstellten zusammen eine rudimentäre HTML-Seite. Ich bat sie in der ersten Lektion nach ihrer Ankunft, uns auf Google Maps & Street View ihr Zuhause und den Fluchtweg zu zeigen. Sie war zuerst eher zurückhaltend, doch gewann dann etwas Vertrauen (erzählen hilft ei­gent­lich im­mer …).


Україна

«Dieser grausame Krieg wird einmal zu Ende gehen. Stell dir vor, du seist Reiseführerin und zeigtest uns die schönsten Orte in der Ukraine.». Ihre folgenden Erklärungen waren knapp, aber zusammen mit den projizierten Bildern erlebten wir eine eindrückliche Geo­gra­fie– und Ge­schichts­stun­de.

Ende des Schuljahres, kurz vor ihrem Eintritt in das Gym­na­sium Hof­wil, fragte ich Sofiia nach ihren Erfahrungen mit dem Schweizer Schulsystem. Sie antwortete knapp, aber treffend: «In der Ukraine sind Lehrer und Schulen schlecht, aber die Schüler sind interessiert. Hier gibt es eine gute Schule, gute Leh­rer, aber die Schü­ler sind faul!»


Du Opfer!

Ich erachte mich als aufgeschlossen, was die Jugendsprache betrifft. Mit einer Ausnahme: «Du Opfer!», diesen Ausdruck lehne ich ab, da ich im schulischen Umfeld Opfer kennengelernt habe: Das Opfer des se­xuel­len Miss­brauchs, das mit der Familie aus der Tsche­cho­slo­wa­kei geflüchtete 9-jährige Mädchen in der Nachbarschaft, die politischen Flüchtlinge mit ihren Kindern aus Chi­les Mi­li­tär­dik­ta­tur, das 14-jährige Folteropfer serbischer Frei­schärler aus dem Ko­so­vo­krieg, das eben­so 14-jährige traumatisierte Mäd­chen aus dem bom­bar­dier­ten Bel­gra­der-Bun­ker, das Flüchtlingskind aus dem kur­di­schen Irak, der vom russischen Bombardement traumatisierte Knabe aus My­ko­laiv. Und nicht zu vergessen, die vie­len Op­fer von Aus­gren­zung, Er­nied­ri­gung und Ge­walt un­ter Ju­gend­li­chen.

Hat die Gewalt in der Welt zugenommen? Sind Jugendliche heu­te «schlim­mer»? Nein, aber wir se­hen zum Glück ge­nau­er hin.